Der 11. Kinder- und Jugendbericht

Prof. Dr. Ingo Richter, Vorsitzender der Sachverständigenkommission des 11. Kinder- und Jugendberichts: Der 11. Kinder- und Jugendbericht ist ein Gesamtbericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, den eine von der Bundesregierung berufene unabhängige Sachverständigenkommission erarbeitet hat. Der Bericht enthält eine Zusammenfassung mit 10 Empfehlungen für die Kinder- und Jugendhilfe im 21. Jahrhundert.

Ich beschränke mich in meiner Darstellung auf einige wenige von mir ausgewählte Fragen und Antworten der Kommission.

1. Kinder und Jugendliche in einer tendenziell „kinderlosen Gesellschaft“

Die deutsche Gesellschaft muß sich darauf einrichten, dass sich der Anteil der jungen Menschen an der Bevölkerung unter 20 Jahren in 50 Jahren fast halbiert: Er wird von 30 % im Jahre 1970 auf 17 % im Jahre 2020 sinken und der Anteil der alten Menschen von über 65 Jahren wird sich in diesem Zeitraum etwa verdoppeln, er wird von 10 bis 13 % im Jahre 1970 auf 22 % im Jahre 2020 steigen. Kinder und Jugendliche werden zu einem „knappen Gut“, zur „Mangelware“.

Die Kommission ist nicht der Auffassung, dass diese Entwicklung durch Politik steuerbar ist, sie fordert jedoch einen Neuen Generationenvertrag durch einen Systemwechsel bei den sozialen Leistungen und zwar eine Umverteilung der Belastungen zwischen den Generationen durch eine familienfreundliche Gestaltung der Arbeitswelt und den Ausbau einer bedarfsgerechten sozialen Infrastruktur, – „Dienste vor Geld“ lautet die Kurzformel.

Neben einer solchen mittel- und langfristigen Politik für die junge Generation fordert die Kommission eine kurzfristige Planung der Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, da der Bedarf schon jetzt vorhersehbar ist, denn im Westen sinkt die Anzahl der Kinder, während die Anzahl der Jugendlichen vorerst noch weiter steigen wird, – im Osten dagegen steigt die Anzahl der Kinder, während die der Jugendlichen sinkt. Aufgrund der unterschiedlichen Stärke der Geburtsjahrgänge der Eltern haben wir also in West und Ost gänzlich unterschiedliche Entwicklungen.

Vor allem aber müssen wir Szenarien entwickeln für eine „kinderarme Gesellschaft“: Wie soll eine solche Gesellschaft aussehen?

2. „All animals are equal, but some animals are more equal than others“.

In diese paradoxe Kurzformel hat Georg Orwell 1945 in seiner „Farm der Tiere“ das Phänomen der sozialen Ungleichheit in der modernen Gesellschaft gebracht. Die Kommission hat in allen sozialen Bereichen – ebenso wie die Kommission für den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung – festgestellt, dass sich die Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen nach Geschlecht, Bildung, Schicht/Klasse, Region und Migrationshintergrund deutlich unterscheiden. Die Sozialpolitik der vergangenen Jahre hat zwar allen gedient; sie hat jedoch einen sogenannten Fahrstuhleffekt gehabt: Alle kommen weiter nach oben, aber einige schneller und höher als andere.

Die Kommission leugnet nicht die Reformbedürftigkeit des derzeitigen Sozialstaates; eine Verlagerung der Zuständigkeiten für soziale Probleme an die Selbsthilfepotenziale der Betroffenen und eine Reprivatisierung der Verantwortung für die soziale Sicherheit würde jedoch die vorhandenen gesellschaftlichen Spaltungstendenzen vertiefen. Fern von aller „Gleichmacherei“ und „Versorgungsmentalität“ bekennt sich die Kommission durchaus zur Individualisierung und Pluralisierung, zur Selbständigkeit und Eigeninitiative in der Lebensführung; sie fordert jedoch Chancengleichheit für die Kinder und Jugendlichen und unterstützt deshalb u.a. das vom Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen beim BMFSFJ vorgeschlagene Kinderfördergeld zum Ausgleich sozialer Bedarfslagen.


3. Gefahren der „Ghettoisierung“ einiger Städte und der „Entvölkerung“ einiger ländlicher Gebiete

Migration und Binnenwanderung, Städtebau und Wohnstrukturen führen dazu, dass in einigen großen Städten Bezirke entstanden sind, in denen vor allem Familien mit vielfachen Problemen leben, ohne dass ihnen die notwendige soziale Infrastruktur zur Verfügung steht, dass einige ländliche Gebiete so „entvölkert“ worden sind, dass die soziale Infrastruktur nicht mehr flächendeckend aufrecht erhalten werden kann.

Die Kommission bekennt sich durchaus zu einem sinnvollen Konzept der Regionalisierung, das den Entwicklungsbedarf dieser Gebiete deutlich berücksichtigt. Sie sieht deshalb im Programm „Soziale Stadt“ der Bundesregierung und dem Begleitprogramm des BMFSFJ „Entwicklung und Chancen“ einen richtigen Ansatz zur Lösung dieser Probleme, denn es ist nach wie vor die Aufgabe der Politik, für die Herstellung gleicher Lebensbedingungen in allen Teilen des Landes zu sorgen.

Dies ist nicht nur, aber auch ein Problem der Lebensbedingungen der Migranten in diesem Land. Wie bereits der 6. Familienbericht gezeigt hat, ist es keinesfalls so, dass die Migranten, gegliedert nach Nationalität, unter sich bleiben wollen, sondern sie sprechen sich mehrheitlich eindeutig für eine gemischte Wohnstruktur und für integrierte Lebensverhältnisse aus. Es ist aber – trotz deutlicher Fortschritte in einigen Bereichen – immer noch so, dass soziale Infrastruktureinrichtungen unter Einschluss des Bildungswesens von Migranten und ihren Kindern weniger in Anspruch genommen werden als von den Einheimischen.

Die jungen Migranten haben ebenso wie die einheimischen Jugendlichen einen Anspruch darauf, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen einzurichten. Dennoch betont die Kommission, dass der Erwerb der deutschen Sprache die unabdingbare Voraussetzung für ein gelingendes Aufwachsen und die soziale Integration in diesem Lande ist. Dies muss in den Familien und in den Kindertageseinrichtungen beginnen und sich im Jugendalter fortsetzen, damit die Jugendlichen, wenn sie mit 18 über ihre Staatsangehörigkeit entscheiden müssen, wirklich eine freie Wahl treffen können. Sie bei dieser Entscheidung zu beraten, ist auch eine Aufgabe von Jugendhilfe und Schule.

4. Soziales und kulturelles Kapital

Die Bundesrepublik steht vor der paradoxen Situation, dass ihr Bildungs- und Ausbildungssystem einerseits den Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften nicht befriedigen kann und dass andererseits schon jetzt rund 10 % der Jugendlichen keinen Arbeitsplatz finden. Es besteht die Gefahr einer noch zunehmenden gigantischen Fehlsteuerung des Bildungs- und Ausbildungssystems.

Der 11. Kinder- und Jugendbericht wurde noch vor der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse fertiggestellt; doch die international vergleichende Quantifizierung bestätigt nur, was die Fachwelt seit langem weiß: Der Schlüssel für die Leistungsprobleme der deutschen Jugendlichen liegt in den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen, in ihren Familien und Freundes- und Beziehungskreisen. Die Kommission ist für Schule und Unterricht im engerem Sinne nicht zuständig; sie fordert jedoch – jetzt auch unterstützt durch das Bundesjugendkuratorium -, die Familien- und Jugendpolitik als Bildungspolitik zu begreifen. Sie fordert mehr Zeit für Bildung, – nicht im Sinne einer Verlängerung der Schulzeiten, sondern im Sinne einer Förderung und Anerkennung der außerschulisch erworbenen Kompetenzen, z.B. in dem vom Europarat entwickelten „Portofolio der Sprachen“. Die Kommission weist darauf hin, dass – trotz der Erfolge des sogenannten Jump-Programms der Bundesregierung – die Umsetzung der Beschlüsse des Europäischen Beschäftigungsgipfels von 1997 noch aussteht: Kein Jugendlicher soll im Jahre 2003 länger als ein halbes Jahr ohne Ausbildung, Arbeit und Qualifikationsmaßnahme sein. Für das gesamte Bildungs- und Ausbildungswesen gilt der international anerkannte Grundsatz, dass jeder junge Mensch – auch nach einem Scheitern im Bildungs- und Ausbildungswesens – das Recht auf eine „zweite Chance“ hat. Angesichts von vermuteten 15 % Schulschwänzern, rund 25 % Sitzenbleibern in der Schule, rund 25 % schulischen „Absteigern“, rund 20 % Schülern ohne Hauptschulabschluss und rund 10 % Jugendarbeitslosigkeit besteht Handlungsbedarf.

5. „Demokratisierung der Demokratie“ (Giddens)

Das Schlagwort benennt die vielfach festgestellte Tatsache, dass ein Widerspruch besteht zwischen einem großen politischen Interesse der Jugendlichen und der geringen politischen Beteiligung von Jugendlichen (Shellstudie, Jugendsurvey des Deutschen Jugendinstituts u.a.). Dieser Widerspruch löst sich, wenn man sieht, dass die Distanz sich auf die offizielle Politik, auf das politische System bezieht, dass aber das konkrete politische Engagement in ehrenamtlichen Aktivitäten und in Gemeinwesenprojekten durchaus vorhanden ist. „Null Bock“ bezieht sich also auf die Parteiendemokratie, nicht aber auf die „Politik vor Ort“. Der Widerspruch kommt verschärft auch im grassierenden Rechtsextremismus und in der Fremdenfeindlichkeit zum Ausdruck. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass ein gewisses Maß extremen, provokativen und gewalttätigen Verhaltens biographisch, also jugendtypisch ist, bleibt die Tatsache bestehen, dass es dem politischen System der Bundesrepublik nicht mehr gelingt, alle Kinder und Jugendlichen politisch zu integrieren und für die Demokratie zu gewinnen, dass vielmehr ein großer Teil der Jugendlichen auf Distanz geht und das ein kleiner Teil offen Ablehnung und Verachtung äußert, in politische Chimären flüchtet, zu Gewalt greift und einige wenige zu Verbrechern werden. Die Rolle des Sündenbocks kann nicht pauschal der Familien-, Jugend- und Bildungspolitik zugeschoben werden, weil die Ursachen in der Politik selber liegen. Deshalb ist eine „Demokratisierung der Demokratie“ nötig, z.B. durch die Gewährung echter Mitbestimmung anstelle von scheindemokratischer Beteiligung.

Die Kommission hat für ihren Bericht das Motto „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ gewählt. Damit meint die Kommission, dass in allen Lebensbereichen – nur einige wenige wurden hier erwähnt – durch politische Gestaltung chancengleiche und nachhaltig förderliche Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen geschaffen und gewährleistet werden müssen. Öffentliche Verantwortung heißt nicht „Verstaatlichung von Erziehung und Bildung“, sondern im Gegenteil die Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern und der Bildungskompetenzen der Kinder und Jugendlichen. Mit diesem Begriff der öffentlichen Verantwortung will die Kommission die ideologische Auseinandersetzung „Staat versus Eltern“ überwinden und auf die Ebene der Erfüllung der Aufgaben heben, die die Gesellschaft den Kindern und Jugendlichen schuldet. Eine solche Politik würde sichtbar, wenn Artikel 6 GG um ein „Recht der Kinder und Jugendlichen“ ergänzt würde und die Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in Politik und Verwaltung in eine Hand gelegt würde.


Prof. Dr. Ingo Richter
Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2
81541 München
Tel. 089/62306-280

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Barbara Keddi idw

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