Können Zuwanderer Bevölkerungsalterung aufhalten?

Wirkungen alternativer Geburten- und Migrationstrends für Österreich und die EU geschätzt

Der demografische Wandel stellt das System der sozialen Sicherung in Europa vor große Herausforderungen. Deshalb beschäftigen sich Modellrechnungen mit der Frage, welche Faktoren in welchem Maß zur Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung beitragen. Berechnungen für Österreich und die EU zeigen, dass weder steigende Geburtenraten noch höhere Zuwanderungszahlen alleine den Alterungsprozess signifikant beeinflussen können.

Die zukünftige Größe und Altersstruktur jeder Bevölkerung wird bestimmt durch: Die gegenwärtige Struktur der Bevölkerung nach Alter und Geschlecht, die zukünftige Entwicklung von Geburtenraten, Sterberaten sowie Migration. Als durch die Politik möglicherweise beeinflussbare Faktoren stellen sich nur Migration und Geburtenrate dar. Deshalb berechnen wir eine Vielzahl von Szenarien mit unterschiedlichen Annahmen der Einwanderungs- und Geburtenentwicklung und untersuchen deren Auswirkung auf die Bevölkerungsgröße. Interessant dabei ist die Altenbelastungsquote, die die Relation der Bevölkerung im Alter über 65 Jahren zur Bevölkerung von 15 bis 64 Jahren wiedergibt. Die Modellrechnungen beziehen sich auf Österreich sowie auf alle 15 Länder, die 2003 Mitglied der Europäischen Union (EU) waren. Die Ergebnisse für die EU sind in der Grafik veranschaulicht: Auf der horizontalen Achse ist ein weites Spektrum von Fertilitätsraten dargestellt, von extrem niedrigen 1,0 Kindern pro Frau bis zu unrealistisch hohen 2,2 Kindern (gegenwärtig liegt der EU-Durchschnitt bei 1,5 Kindern). Die Balken stellen vier unterschiedliche, angenommene Einwanderungsszenarien dar: Von einer unwahrscheinlichen Nullwanderung bis zum extrem hohen Wert von netto 1,2 Millionen Zuwanderern pro Jahr (in den vergangenen Jahren hatte die EU einen Wanderungsgewinn von rund 700.000 Personen).

Die Schätzungen für 2050 zeigen, dass nur die Kombination von hohen Geburtenzahlen und hoher Zuwanderung ein Schrumpfen der EU-Bevölkerung verhindert (die schwarze Linie stellt die derzeit rund 380 Millionen EU-Bürger dar). Je niedriger die Geburtenrate ist und je niedriger der Wanderungsgewinn ist, desto stärker schrumpft die Bevölkerung. Bei der Altenbelastungsquote zeigt sich, dass auch die Kombination von höchster Fertilität mit höchster Zuwanderung einen dramatischen Anstieg nicht verhindern, sondern nur mildern kann. Die Belastungsquote steigt durch das bereits in der jetzigen Altersstruktur angelegte Alter von derzeit rund 0,25 in allen Szenarien auf über 0,40. Bei einer Kombination von niedriger Fertilität mit niedriger Zuwanderung steigt die Belastungsquote in Folge der stärkeren Alterung auf mehr als das Doppelte an, im Extremfall sogar auf 0,62. Verallgemeinert man den in den Grafiken dargestellten kompensatorischen Zusammenhang zwischen Geburtenrate und Migration, zeigt sich: Sowohl bei der Bevölkerungszahl als auch bei der Altenbelastungsquote hat in der gesamten EU eine Million Einwanderer netto pro Jahr den gleichen Effekt wie im Durchschnitt ein zusätzliches Kind pro Frau übers ganze Leben gerechnet. In realistischeren Zahlen ausgedrückt heißt dies: 100.000 zusätzliche Zuwanderer pro Jahr haben den gleichen Effekt wie ein nachhaltiger Anstieg der Geburtenrate um 0,1, zum Beispiel von 1.5 auf 1.6 Kinder pro Frau. Die Bevölkerung Österreichs weist ein ähnliches Muster auf (für Deutschland vgl. z.B. Birg). Jedoch liegt die Geburtenrate unter dem EU-Durchschnitt, und der Alterungsprozess ist bereits etwas weiter fortgeschritten. Für den allgemeinen Zusammenhang ergibt sich, dass etwa 2.000 zusätzliche Zuwanderer pro Jahr den gleichen Effekt haben wie eine um 0,1 Kinder höhere Geburtenrate. Die Bevölkerungsgröße nach Alter und Geschlecht liefert nur einen Teil der relevanten Information. Für die Zahlungsbilanz der Sozialversicherung sind auch die Erwerbsquoten nach Alter und Geschlecht sowie die Produktivität (Bildung) der Erwerbstätigen von Bedeutung. Somit sind Bildungs- und Erwerbsstruktur der Zuwanderungsgruppen relevant. Auch ist die unterschiedliche zeitliche Dynamik zu beachten: Steigen die Geburtenraten in der einheimischen Bevölkerung, so dauert es etwa 20 Jahre, bis die Zahl der Erwerbstätigen steigt; Einwanderer können theoretisch sofort beginnen zu arbeiten. Wolfgang Lutz und Sergei Scherbov

Literatur: Lutz,W. and S. Scherbov: Can immigration compensate for Europe’s low fertility? Vienna Institute of Demography, Vienna 2003, 16 p. (European Demographic Research Papers)

Birg, H.: Auswirkungen und Kosten der Zuwanderung nach Deutschland. Gutachten im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums des Innern. Universität Bielefeld, Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik (IBS), Bielefeld 2001, 52 S.)

Kontakt: wolfgang.lutz@oeaw.ac.at · sergei.scherbov@oeaw.ac.at

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