Im modernen Schuldturm wird es eng

Soziologische Studie aus Chemnitz zeigt, dass Überschuldung und private Insolvenz in allen sozialen Milieus ein Problem ist – nun sind die politischen Akteure gefordert.

Schulden drücken hierzulande nicht nur die sozial Benachteiligten, Schulden werden heutzutage in allen gesellschaftlichen Schichten gemacht – und das nicht zu knapp. Mit deutschen Lebensschicksalen am Rande der Pfändungsfreigrenze hat sich der Chemnitzer Soziologe Wolfram Backert eingehend in seiner Dissertationsschrift „Leben im modernen Schuldturm“ beschäftigt und dabei festgestellt, dass das Problem der Verbraucherüberschuldung eben auch die mittleren und oberen Segmente der bundsdeutschen Sozialstruktur trifft.

Der Konkurs droht auch in höheren Kreisen

Die nun vorliegende Doktorarbeit geht aus dem dreijährigen Forschungsprojekt „Leben nach Plan“ hervor, das von der Volkswagenstiftung gefördert wurde. Darin hat Wolfram Backert gemeinsam mit Götz Lechner unter der Leitung des Chemnitzer Soziologieprofessors Ditmar Brock die Konsequenzen der 1999 novellierten Insolvenzordnung (InsO) unter die Lupe genommen, die seitdem den „Konkurs“ von Privathaushalten vorsieht. Hintergrund dieser Gesetzesänderung war die steigende Zahl von überschuldeten Privathaushalten sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern. Schätzungen der GP-Forschungsgruppe ergaben bereits für das Jahr 1998, dass bis zu 2,8 Millionen der rund 38 Millionen deutschen Haushalte im Bundesgebiet nicht mehr in der Lage waren, ihren Verbindlichkeiten nachzukommen. Das neue und inzwischen wieder überarbeitete Gesetzeswerk sah für die Schuldner seitdem erstmals unter bestimmten Voraussetzungen die Restschuldbefreiung nach Ablauf einer siebenjährigen Phase des Wohlverhaltens vor.

In der qualitativ ausgerichteten Untersuchung wurden dazu 40 ost- und westdeutsche Klienten von Schuldnerberatungsstellen interviewt sowie Gruppendiskussionen, Wiederbefragungen und Experteninterviews durchgeführt. In der Fallstudie „Leben im modernen Schuldturm – Überschuldung von Privathaushalten und soziale Milieus in den alten und neuen Bundesländern“ hat Wolfram Backert nun die interviewten Schuldner zudem in eine Milieusystematik eingeordnet. Dabei zeigt das Material der Studie eine soziale Streuung über die gesamte Sozialstruktur der Bundesrepublik: Überschuldung findet sich demnach nicht nur bei gering gebildeten, einkommensschwachen Haushalten, sondern tendiert offenbar dazu, sich in mittlere bis höhere Segmente der ungleichen Sozialstruktur auszubreiten.

Wenn zusammenkommt, was nicht zusammenpasst

Die vorliegende Arbeit gibt allerdings nicht nur einen ausführlichen Einblick in das beschwerliche Leben der Betroffenen an der Pfändungsfreigrenze, sondern zeigt darüber hinaus auch den typischen Verlauf, der für immer mehr Deutsche in der Schuldenfalle endet. Nach Backerts Erkenntnissen droht Überschuldung zumeist in gesellschaftlichen Gefährdungslagen bei gleichzeitiger Beleihung der Normalbiographie – kurz gesagt, wenn im Leben zusammenkommt, was nicht zusammenpasst. Wenn zum Beispiel ein Kredit, mit dem das Häuschen im Grünen finanziert werden sollte, plötzlich wegen Arbeitslosigkeit, Scheidung oder Krankheit nicht mehr abgezahlt werden kann. „Heute abschätzen zu müssen, was morgen oder übermorgen finanziell noch machbar ist, ist nicht selten ein riskantes Unterfangen“, urteilt Wolfram Backert. Immerhin sind bereits mehr als sieben Prozent der deutschen Haushalte von Überschuldung betroffen.

Weil sich die private Insolvenz also längst zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem ausgewachsen hat, fordert der Soziologe der TU Chemnitz neue Wege im Umgang mit denen, die bereits im modernen Schuldturm leben oder Gefahr laufen, bald als neue Bewohner einzuziehen: „Schuldnerberatungen allein können nicht mehr die Lösung sein, weil diese Beratungsstellen fast ausschließlich von den Angehörigen der unteren Sozialmilieus genutzt werden. Da aber eine weitaus größere Gruppe der Bevölkerung betroffen ist, sollte sich nicht nur die Wissenschaft ihrer annehmen, sondern in steigendem Maße auch die politischen Entscheidungsträger. Die vorliegende Untersuchung möchte diesen notwendigen Prozess des Weiterdenkens anstoßen.“

Weitere Informationen erteilt Wolfram Backert, Professur für Allgemeine Soziologie II der TU Chemnitz, unter Telefon (03 71) 531 24 80 oder per E-Mail wolfram.backert@phil.tu-chemnitz.de

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Alexander Friebel Pressedienst

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