Der eigenen Wahrnehmung misstrauen

Wer längere Zeit konzentriert auf einen Wasserfall blickt und anschließend auf eine unbewegte Szene, meint plötzlich, eine Bewegung nach oben wahrzunehmen. Diese „Wasserfall-Täuschung“ beschrieb Aristoteles bereits vor über 2000 Jahren in seiner kleinen Naturkunde „Parva Naturalia“.

Doch erst in jüngerer Vergangenheit lieferten amerikanische Forscher per Experiment eine plausible Erklärung für dieses Phänomen eines Bewegungs-Nacheffektes. Verantwortlich für diese Sinnestäuschung sind unsere Nervenzellen, die Neuronen. Sie arbeiten in Aufgabenteilung, und nach einer Phase konzentrierten „Dauerfeuers“ ermüden die Zellen, die in der Erregung die Bewegung nach unten registrieren. Blickt man in diesem Moment auf eine unbewegte Szene, werden die für das „Kontrastprogramm“ verantwortlichen Neuronen aktiv: Dem Gehirn wird Bewegung nach oben suggeriert.

Der Psychologe Prof. Dr. Stefan Schweinberger von der Universität Jena und seine Arbeitsgruppe haben jetzt ähnliche Effekte bei der akustischen Wahrnehmung festgestellt. Ihr verblüffender Befund: Ein Hörer identifiziert eine androgyne Stimme als männlich, wenn er zuvor eine deutlich feminine Stimme gehört hat. Umgekehrt ordnet er die androgyne Stimme einem weiblichen Sprecher zu, wenn er zuvor einen markant maskulinen Sprecher gehört hat. „Dieser Effekt hält einige Minuten lang an“, sagt Schweinberger. Bislang seien diese Ergebnisse noch nicht beschrieben worden, so der Jenaer Lehrstuhlinhaber für Allgemeine Psychologie/Kognitive Neurowissenschaften. Beim Experiment kannten die Probanden keinen der Sprecher und die Ergebnisse wurden unabhängig vom Geschlecht der Hörer festgestellt.

Die technischen Voraussetzungen lieferte der japanische Wissenschaftler Prof. Dr. Hideki Kawahara von der Wakayama-University aus der Nähe von Yokohama. Der Japaner entwickelte eine Software, die das sogenannte Stimmenmorphing ermöglicht. Dabei wird eine Aufnahme gemorpht, das heißt, sie wird Schritt für Schritt verändert. Ausgangspunkt ist beispielsweise ein weiblicher Sprecher, dessen Stimme in Zehnerschritten zu einem männlichen Sprecher verändert wird. „Diese Technik ist aus der Gesichtsidentifikation bekannt“, sagt Schweinberger. Wohl jeder habe schon mal gesehen, wie zwei völlig verschiedene Gesichter digital miteinander verschmolzen werden oder wie durch eine allmähliche Veränderung aus dem Bild einer Person das Bild einer anderen entsteht. „Die Gesichtermorphing-Technik wurde 1990 entwickelt und hat seither die Gehirnforschung revolutioniert“, sagt Schweinberger, der das neue System des Stimmenmorphings bei seinen Forschungen angewandt hat.

Den Experimenten verdanken wir die Erkenntnis, dass unsere Wahrnehmung keineswegs völlig unbestechlich ist. „Wir müssen die Prinzipien der Wahrnehmung verstehen, um verantwortungsvoll damit umgehen zu können“, betont Stefan Schweinberger. Der Psychologe verweist auf Zeugenaussagen vor Gericht, bei denen klar wird, wie oft es zu Fehlidentifikationen kommt. Einer seiner Kollegen aus Schottland werde deshalb oft als Gutachter vor Gericht gehört. „Was für die Gesichts-Identifikation gilt, hat natürlich auch bei Stimmen oder anderen Geräuschen große Bedeutung“, so Schweinberger. Anders gesagt: Die Experimente zeigen, dass wir Menschen allen Grund haben, unseren sinnlichen Wahrnehmungen zu misstrauen.

Die Studie „Auditory Adaption in Voice Perception“ ist jetzt im Fachjournal „Current Biology“ veröffentlicht worden. Die Autoren sind Stefan R. Schweinberger, Christoph Casper, Nadine Hauthal, Jürgen M. Kaufmann, Hideki Kawahara, Nadine Kloth, David M.C. Robertson, Adrian P. Simpson und Romi Zäske.

Kontakt:
Prof. Dr. Stefan R. Schweinberger
Institut für Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Am Steiger 3 / 1, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 945181
E-Mail: stefan.schweinberger[at]uni-jena.de

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Stephan Laudien idw

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