80 Fragen an das südliche Ende der Welt

Basis der deutschen Antarktis-Forschung: Die Neumayer-Station III in der Nähe der Atka-Bucht Foto: Stefan Christmann, Alfred-Wegener-Institut

Am 6. August erschien vorab online in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Nature ein zukunftsweisender Beitrag von 75 führenden Antarktisforschern und Wissenschaftsmanagern aus 22 Ländern. Im so genannten „SCAR Horizon Scan“ haben sie die 80 drängenden Fragen für die folgenden 20 Jahre Forschung in Antarktis und Südlichem Ozean formuliert. Drei Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, trugen im disziplinübergreifenden Austausch dazu bei, die richtungsweisenden Themen herauszuarbeiten.

Wie sieht die Erdoberfläche unter dem mehrere Kilometer dicken Eis der Antarktis aus? Welche Strukturen geben dem Eispanzer Halt und wieweit könnten sich diese Aufsetzlinien für Gletscher zurückziehen, so dass vermehrt Eisberge kalben? Verändert sich die global bedeutende Bildung von Tiefenwasser im Südlichen Ozean, wenn durch solche Prozesse vermehrt Süßwasser in die Tiefsee eingetragen wird? Wie weit nach Norden wirkt sich eine veränderte Hydrodynamik in diesem Antriebsgebiet für die weltweiten Ozeanströmungen aus? Wie rasch vollzieht sich der Wandel in der Antarktis und kennen wir vergleichbare Entwicklungen aus vergangenen Erdzeitaltern?

Diese Fragen richten beispielsweise Biologen an Geowissenschaftler und Ozeanographen, damit sie abschätzen können, wie nicht nur einzelne Arten, wie bisher untersucht, sondern ganze Tier- und Pflanzengesellschaften reagieren. In Zukunft soll dabei besonders die Wirkung häufig beobachteter Kombinationen aus mehreren sich ändernden Umweltfaktoren und nicht nur einzelner Faktoren im Mittelpunkt stehen. Ob Organismen sich anpassen können, abwandern oder aussterben, hängt unter anderem vom Tempo der Veränderungen ab.

Und der Fortbestand der Lebewelt beziehungsweise deren Anpassungsfähigkeit hält Ökosystemleistungen aufrecht: Kleinstalgen im Südlichen Ozean produzieren beispielsweise Sauerstoff und entziehen der Atmosphäre Kohlendioxid. Verändert sich ihre Photosyntheseleistung, so beeinflusst das die Konzentration der Gase im Wasser und wirkt sich über den Gasaustausch auch auf die Atmosphäre aus. Klimawissenschaftler nutzen dann die Ergebnisse detaillierter Prozessstudien, um sie in Klimamodelle einzufügen. So können sie die Wechselwirkungen zwischen Atmosphäre, Land, Wasser, Eis und der Lebewelt sowie mögliche Veränderungen von Ökosystemdienstleistungen auf veränderte Umweltbedingungen realitätsnäher abbilden.

Gerade in weiten Teilen der Antarktis steht die Wissenschaft vor großen technisch-logistischen Herausforderungen, um die gesteckten Forschungsziele zu erreichen: Stürme und Eisgang erfordern eisbrechende Forschungsschiffe, um den Südlichen Ozean zu erkunden. Antarktika ist der kälteste und stürmischste Kontinent unseres Planeten. Menschen müssen einen hohen Aufwand betreiben, um überhaupt abseits der 64 Forschungsstationen im Feld arbeiten zu können. Betrieb und Versorgung der Stationen selber benötigen eine umfangreiche Polarlogistik. Schon deshalb ist die internationale Gemeinschaft der Antarktisforscher sehr gut vernetzt, beispielsweise über das Wissenschaftliche Komitee für Antarktisforschung (Scientific Committee on Antarctic Science – SCAR), das den jetzt veröffentlichten Horizon Scan initiiert hat.

„Es war ein spannender Prozess, die zukunftsweisenden Fragen unterschiedlichster Fachrichtungen der Antarktisforschung zu bündeln“, berichtet Prof. Heinrich Miller, Geophysiker am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Gemeinsam mit der AWI-Direktorin und SCAR-Vizepräsidentin Prof. Karin Lochte und dem AWI-Biologen Prof. Julian Gutt hat Miller in einem SCAR Horizon Workshop und drei Auswahlrunden die Vorschläge aus der Wissenschaft zu sechs übergreifenden Themenbereichen zusammengefasst. „Es ist uns gelungen, 80 wissenschaftliche Fragen zu formulieren, die die Antarktisforscher umtreiben. In zehn oder 20 Jahren können wir daran überprüfen, wie weit wir gekommen sind und ob sich die Relevanzen verschoben haben“, so Miller weiter.

Die 75 Autoren formulieren in der Nature-Studie die grundlegenden Voraussetzungen dafür, dass das internationale Engagement in der Antarktis zukünftig ihrer wichtigen globalen Bedeutung entspricht. Ihre Kernforderungen dafür sind: Langfristige, stabile Forschungsförderung, ganzjähriger Zugang zu allen Antarktisregionen, Einsatz neuentwickelter Technologien, Stärkung des Umweltschutzes, verstärkter Einsatz internationaler Kollaborationen und bessere Kommunikation zwischen Wissenschaftlern, Logistikern, Forschungsförderern, politischen Entscheidern und der Öffentlichkeit.

Zusätzlich zu klimawissenschaftlichen, geologischen und biologischen Fragestellungen betrachten sie politische Aspekte wie die Vorreiterrolle des Antarktisvertrags. Er regelt unter anderem die ausschließlich friedliche Nutzung des Gebietes südlich 60 Grad südlicher Breite und die freie internationale Zusammenarbeit in der Forschung. Die Autoren blicken auf die Voraussetzungen für Meeresschutzgebiete, betrachten sozioökonomische Aspekte, genetische Ressourcen, sowie mögliche zukünftige Entwicklungen von Tourismus und Fischerei in der Antarktis. Auch die Weltraumforschung bleibt nicht außen vor: Die saubere Luft über der Antarktis erlaubt einen besonders klaren Blick ins All. Die Autoren zeigen damit den Weg auf, wie das große Potential der Antarktisforschung auf vielen gesellschaftsrelevanten Feldern genutzt werden kann.

Originalstudie: Mahlon C. Kennicutt II, Steven L. Chown et al. 2014: Six Priorities for Antarctic Research. Comment in Nature 512, 23–25;2014
Den Katalog der 80 Fragen gibt es dort als Supplementary Material.

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Das Alfred-Wegener-Institut forscht in der Arktis, Antarktis und den Ozeanen der mittleren und hohen Breiten. Es koordiniert die Polarforschung in Deutschland und stellt wichtige Infrastruktur wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen in der Arktis und Antarktis für die internationale Wissenschaft zur Verfügung. Das Alfred-Wegener-Institut ist eines der 18 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands.

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