Aufklärung im Zahlenwirrwarr

Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer und RWI-Vizepräsident Thomas Bauer zum Ende eines jeden Monats sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen.

Nach dem „Armutsbericht 2011“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und den vom Nordrhein-Westfälischen Umweltministerium im Januar verbreiteten Zahlen zum Antibiotikaeinsatz bei der Hähnchenmast wählten die Forscher die Pünktlichkeitsstatistik der Deutschen Bahn AG zur Unstatistik des Monats.

„Die Aktion will so dazu beitragen, mit Daten und Fakten vernünftig umzugehen, in Zahlen gefasste Abbilder der Wirklichkeit korrekt zu interpretieren und eine immer komplexere Welt und Umwelt sinnvoller zu beschreiben“, erklärt Gigerenzer den Zweck der Aktion.

Derer Armutsbericht 2011 impliziert Gigerenzer zufolge fälschlicherweise, das Ruhrgebiet sei das neue Armenhaus der Republik. Dabei misst er statt Armut die Ungleichheit der Einkommen und legt darüber hinaus den falschen Vergleichsmaßstab an. „Ungleichheit ist aber nicht dasselbe wie Armut“, so der Psychologe vom Berliner Max-Planck-Institut. „In Dortmund und Duisburg gibt es absolut gesehen nicht mehr Ungleichheit unter den Menschen innerhalb der Stadt, sondern nur relativ zum Median für Deutschland.“

Ein schräges Bild entsteht auch dadurch, dass der Paritätische Wohlfahrtsverband das Medianeinkommen der gesamten Bundesrepublik als Berechnungsgrundlage für die Armut im Ruhrgebiet verwendet hat. Werde es dagegen nur von der jeweiligen Großstadt als Berechnungsgröße eingesetzt, präsentiert sich ein ganz anderes Bild. So gesehen wies Dortmund 2010 eine geringere Armutsgefährdungsquote als Düsseldorf, Hannover, München oder Stuttgart auf. „Und Duisburg hatte mit 13,9 Prozent sogar die geringste Armutsgefährdungsquote aller ausgewiesenen Großstädte überhaupt“, berichten die Forscher.

Auch geht der wirtschaftliche Aufschwung an den Armen nicht vorbei, wie in dem Bericht überdies behauptet wurde. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ist das monatliche Medianeinkommen eines Haushalts mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren zwischen 2005 und 2010 von 2.575 auf 2.892 Euro gestiegen. Entsprechend erhöhte sich auch das Einkommen, ab dem ein Haushalt als armutsgefährdet bezeichnet wird, in diesem Zeitraum von 1.545 auf 1.735 Euro. Die Armutsgefährdungsquote verringerte sich jedoch im gleichen Zeitraum leicht von 14,7 Prozent auf 14,5 Prozent. „Das heißt, alle Haushalte haben im gleichen Maße vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert, die Armen sogar leicht überproportional“, stellt Gigerenzer klar.

Genauso missverständlich haben sich nach Auffassung der Forscher die Zahlen zum Antibiotikaeinsatz bei der Hähnchenmast präsentiert. So basiert die Zahl von 96,4 Prozent – so viele Hähnchen der untersuchten Mäster aus Nordrhein-Westfalen sollen danach mit Antibiotika behandelt werden oder worden sein – aus ihrer Sicht auf einen Irrtum. „Dieser liegt darin, dass 'Betriebe' mit 'Hähnchen' verwechselt worden sind“, so ihre Kritik. Realistischer ist dagegen die Annahme, dass nur 3,6 Prozent der Hähnchen in Betrieben aufgezogen werden, die grundsätzlich auf Antibiotika verzichten. Es gibt aber viele Mastbetriebe, die einmal bei einem Mastdurchgang Antibiotika brauchten und beim nächsten Durchgang nicht.“ Alle Personen, die die Zahl 96,4 Prozent verbreitet haben, haben fälschlicherweise alle gemästeten Hähnchen dieser Betriebe als durch Antibiotika kontaminiert klassifiziert“, meint Gigerenzer. Man kann also davon ausgehen, dass der Prozentsatz der mit Antibiotika behandelten Masthähnchen wahrscheinlich kleiner als 96,4 Prozent ist.

Mit ihren Zahlen zur Pünktlichkeit lieferte die Deutsche Bahn AG für Gigerenzer, Krämer und Bauer die Unstatistik des Monats Februar. Im Rahmen einer „Transparenzoffensive“ hatte die DB in ihrem Internetportal für Januar 2012 ein Pünktlichkeitsmaß von 96,5 Prozent publiziert. „Diese Zahl bedarf jedoch einer Interpretation“, so die drei Forscher, denn wie pünktlich die Züge an ihrem Zielbahnhof ankommen, ist damit nicht gesagt. Richtig ist, dass 96,5 Prozent aller Haltepunkte des Nah- und Fernverkehrs inklusive S-Bahnen mit einer Verspätung von weniger als sechs Minuten erreicht wurden. „Dies ist angesichts der gewählten Berechnungsmethode aber nicht weiter verwunderlich“, meinen sie. Einen Wert von 96 Prozent erreicht man bereits, wenn beispielsweise die Züge der Bahn durchschnittlich 25 Haltestellen anfahren und alle am Zielbahnhof um mehr als sechs Minuten verspätet ankommen, an den Haltestellen unterwegs aber immer knapp unter dieser Grenze bleiben. Nur bei einem von 25 Haltepunkten, also bei vier Prozent, wurde nach den Kriterien der DB Verspätung angezeigt. Der Prozentsatz der Züge, die dagegen ihren Zielbahnhof mit einer Verspätung von weniger als sechs Minuten erreichten, wird von der Bahn nicht angegeben. Außerdem zählt die Bahn Totalausfälle nicht als Verspätungen.

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Prof. Dr. Dr. h.c. Gerd Gigerenzer Max-Planck-Institut

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