Mikroskopisches Universum gibt Einblick in Leben und Tod des Neutrons

Ein Neutron zerfällt in ein Proton, ein Elektron und ein Antineutrino. In der Gitter-QCD wird ein diskreter Raum zur Berechnung verwendet. Evan Berkowitz

Knapp fünfzehn Minuten „lebt“ ein Neutron bevor es zerfällt. Die Elementarteilchen sind stabil solange sie in Atomkernen stecken. Doch ungebunden zerfallen sie nach einer knappen Viertelstunde in andere Teilchen – Protonen, Elektronen und Antineutrinos. Um die Lebensdauer der Neutronen zu bestimmen, beobachten Wissenschaftler entweder das Auftauchen dieser Zerfallsprodukte oder aber das Verschwinden der Neutronen selbst.

Doch die beiden verschiedenen Experimente liefern unterschiedliche Ergebnisse. Die Abweichung beträgt weniger als neun Sekunden. Das erscheint nicht viel – doch die Konflikte zwischen den experimentellen Messungen könnten zentrale Fragen über die neue Physik jenseits der bekannten Teilchen und Prozesse im Universum beantworten.

Jetzt hat ein internationales Team von Wissenschaftlern mithilfe von Supercomputern erstmals eine Größe berechnet, die für das Verständnis der Lebensdauer von Neutronen von zentraler Bedeutung ist: die axiale Kopplungskonstante der schwachen Wechselwirkung, oder kurz gA.

„Sie bestimmt, mit welcher Kraft die Teilchen im Atomkern zusammengehalten werden, sowie die Rate des radioaktiven Zerfalls des Neutrons“, erklärt Evan Berkowitz vom Jülicher Institut für Kernphysik. „Wir konnten die Kopplungskonstante mit einer beispiellosen Präzision berechnen – und unsere Methode weist den Weg zu weiteren Verbesserungen, die die experimentelle Diskrepanz in der Lebensdauer des Neutrons aufklären können.“

Raum und Zeit auf einem Gitter

Für die Berechnung wandten sich die Forscher einem Eckpfeiler des sogenannten Standardmodells der Teilchenphysik zu: der Quantenchromodynamik (QCD). Sie beschreibt, wie Quarks und Gluonen – die Bausteine für Kernteilchen wie Protonen und Neutronen – miteinander wechselwirken. Diese Wechselwirkungen bestimmen die Masse der Kernteilchen und die Stärke der Kopplung – und damit den Wert der Kopplungskonstanten.

QCD-Berechnungen sind jedoch äußerst komplex. Für ihre Kalkulationen nutzten die Forscher daher eine numerische Simulation, die als Gitter-QCD bezeichnet wird. „In ihr werden Raum und Zeit durch Punkte auf einem Gitter repräsentiert“, erklärt Berkowitz. „Durch diese Konstruktion wird eine Berechnung der Beziehungen zwischen den Elementarteilchen grundsätzlich möglich – allerdings auch dann nur mithilfe leistungsfähiger Supercomputer.“ Die Wissenschaftler nutzten für ihre Simulationen den Supercomputer Titan des Oak Ridge National Laboratory in Tennessee.

Mikroskopisches Universum

Die Kopplungskonstante, die bisher nur aus Neutronenzerfalls-Experimenten abgeleitet werden konnte, ließ sich so erstmals direkt aus dem Standardmodell bestimmen. Die Forscher schufen dafür eine Simulation eines winzigen Teils des Universums mit einer Ausdehnung von nur wenigen Neutronen – viel kleiner als das kleinste Atom. Das Modelluniversum enthält ein einzelnes Neutron inmitten eines „Sees“ von Gluonen und Paaren von Quarks und ihren Antiteilchen, den Antiquarks. In diesem Mikrokosmos simulierten die Wissenschaftler den Zerfall eines Neutrons – um so vorherzusagen, was in der Natur passiert.

Damit, so Berkowitz, lassen sich zum ersten Mal zwei Ergebnisse für gA aus völlig unabhängigen Quellen miteinander vergleichen – aus den Neutronenzerfalls-Experimenten und denen die anhand des Standardmodells berechnet wurden. „Schon kleinste Abweichungen zwischen den Werten könnten zu neuen Entdeckungen führen: über dunkle Materie, die Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie, sowie über andere fundamentalen Fragen zur Natur des Universums.“

Eine neue Ära

„Mit unserer Simulation konnten wir außerdem zeigen, dass Gitter-QCD auch für die Grundlagenforschung in der Physik der Atomkerne verwendet werden kann“, erklärt Berkowitz. Bisher wurde die Methode hauptsächlich für Elementarteilchenphysik verwendet, also für die Physik der Quarks und Gluonen. „Diese Berechnungen läuten eine neue Ära ein. Wir können nun Größen der Kernphysik direkt aus dem Standardmodell genauer bestimmen, ohne auf experimentelle Messdaten oder phänomenologische Modelle zurückgreifen zu müssen.“

Originalpublikation: A per-cent-level determination of the nucleon axial coupling from Quantum Chromodynamics, by C.C. Chang, A. N. Nicholson, E. Rinaldi, E. Berkowitz, N. Garron, D.A. Brantley, H. Monge-Camacho, C. Monahan, C. Bouchard, M.A. Clark, B. Joó, T. Kurth, K. Orginos, P. Vranas, and A. Walker-Loud, Nature, DOI: 10.1038/s41586-018-0161-8

Ansprechpartner:
Dr. Evan Berkowitz
Institut für Kernphysik, Theorie der starken Wechselwirkung IKP-3/IAS-4
Tel.: +49 2462 62-4161
E-Mail: e.berkowitz@fz-juelich.de

Pressekontakt
Dr. Regine Panknin
Pressereferentin
Tel.: +49 2461 61-9054
E-Mail: r.panknin@fz-juelich.de

http://www.fz-juelich.de/ikp/ikp-3/DE/Home/TheorieDerStarkenWechselwirkung.html Institut für Kernphysik, Theorie der starken Wechselwirkung IKP-3/IAS-4

Media Contact

Dipl.-Biologin Annette Stettien idw - Informationsdienst Wissenschaft

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Physik Astronomie

Von grundlegenden Gesetzen der Natur, ihre elementaren Bausteine und deren Wechselwirkungen, den Eigenschaften und dem Verhalten von Materie über Felder in Raum und Zeit bis hin zur Struktur von Raum und Zeit selbst.

Der innovations report bietet Ihnen hierzu interessante Berichte und Artikel, unter anderem zu den Teilbereichen: Astrophysik, Lasertechnologie, Kernphysik, Quantenphysik, Nanotechnologie, Teilchenphysik, Festkörperphysik, Mars, Venus, und Hubble.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Neue universelle lichtbasierte Technik zur Kontrolle der Talpolarisation

Ein internationales Forscherteam berichtet in Nature über eine neue Methode, mit der zum ersten Mal die Talpolarisation in zentrosymmetrischen Bulk-Materialien auf eine nicht materialspezifische Weise erreicht wird. Diese „universelle Technik“…

Tumorzellen hebeln das Immunsystem früh aus

Neu entdeckter Mechanismus könnte Krebs-Immuntherapien deutlich verbessern. Tumore verhindern aktiv, dass sich Immunantworten durch sogenannte zytotoxische T-Zellen bilden, die den Krebs bekämpfen könnten. Wie das genau geschieht, beschreiben jetzt erstmals…

Immunzellen in den Startlöchern: „Allzeit bereit“ ist harte Arbeit

Wenn Krankheitserreger in den Körper eindringen, muss das Immunsystem sofort reagieren und eine Infektion verhindern oder eindämmen. Doch wie halten sich unsere Abwehrzellen bereit, wenn kein Angreifer in Sicht ist?…

Partner & Förderer