Heißes Molekül erklärt kalte Chemie im freien Raum

Bild 1: Der von der Heidelberger Forschergruppe zusammen mit Kollegen vom Weizmann Institute of Science in Rehovot neu entwickelte Detektor, der sowohl Orte als auch Teilchenmassen für die Fragmente molekularer Aufbruchreaktionen bestimmt, kurz vor seinem Einbau in das Vakuumsystem des Heidelberger Ionenspeicherrings. Die Pfeile zeigen schematisch die Flugbahnen der auftreffenden Fragmente. Das Diagramm rechts veranschaulicht die Bestimmung der Teilchenmassen und Auftrefforte auf der Detektoroberfläche, die aus gekreuzt angeordneten Siliziumstreifen besteht. Die Teilchenmasse ist durch die Pulshöhe gegeben. Foto und Illustration: MPIK<br>

Wie es dazu kommt, haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kernphysik mit Experimenten im Heidelberger Ionenspeicherring aufgeklärt. Bei der interstellaren Synthese entsteht zunächst eine heiße Mischform, aus der beide Isomere gleich häufig hervorgehen. (The Astrophysical Journal Letters, 20.01.2011 online)

Wenn sich aus kalten Gaswolken Sterne bilden, finden sich in den Wolken bereits viele Moleküle, die aus den wichtigen Grundelementen (Wasserstoff, Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff bis hin zu Schwefel) aufgebaut sind. Mit empfindlichen neuen Observatorien lassen sich die „Fingerabdrücke“ vieler dieser Moleküle im Licht und in der Radiostrahlung dieser Gaswolken identifizieren.

Rätselhafterweise zeigt sich dabei, dass die Atome in den interstellaren Molekülen nicht immer in der energetisch günstigsten Anordnung vorliegen. Manche der beobachteten Verbindungen werden in verwandten Formen (sogenannte Isomeren) gefunden, die durch Platzwechsel einzelner Atome innerhalb des Moleküls entstehen können. Für solche Platzwechsel muss jedoch eine erhebliche Energie aufgewendet werden, die Temperaturen von vielen tausend Grad erfordert.

Eines dieser Moleküle ist Blausäure (HCN – das Wasserstoffatom ist an das Kohlenstoffatom gebunden), deren wesentlich energiereicheres Isomer Isoblausäure (HNC – das Wasserstoffatom ist an das Stickstoffatom gebunden) etwa genauso häufig gefunden wird wie Blausäure, die bei den tiefen Temperaturen im freien Raum eigentlich weit überwiegen sollte.

Schon lange wurde vermutet, dass die Bildung dieser oft sehr energetischen Isomere auf die allgemeine Art der Molekülbildung in interstellaren Wolken zurückzuführen sei. Sie erfolgt letztlich durch die ionisierende Strahlung, die das Weltall durchdringt. Hierbei bildet sich auf einem verschlungenen Weg zuerst ein symmetrischer Vorläufer, das Ion HCNH+. Trifft ein HCNH+-Ion mit einem Elektron zusammen, wird es neutralisiert und zerfällt in Bruchstücke, wobei Energie frei wird. Auf diesem Weg ist die Bildung beider Isomere möglich.

Forscher am MPI für Kernphysik haben nun diese elementare Aufbruchreaktion im Labor genau vermessen – unter Bedingungen, die denen in interstellaren Wolken sehr nahe kommen. Im Heidelberger Ionenspeicherring brachten sie Elektronen und DCND+-Ionen (Varianten des HCNH+ mit schwerem Wasserstoff, D = Deuterium) einzeln zum Stoß, und zwar bei extrem geringen Stoßenergien, die der Temperatur von ca. –260°C in den interstellaren Wolken entsprechen. Mit einem kürzlich in der Forschergruppe neu entwickelten großflächigen Detektor bestimmten sie die Orte und die Teilchenmassen der Fragmente D und DCN bzw. DNC. Nur so kann sichergestellt werden, dass im Experiment immer nur genau der Aufbruch in zwei Teilchen registriert wird. Eine Unterscheidung zwischen den beiden Isomeren des Produktmoleküls ist bei diesem Teilchenphysik-Experiment zwar nicht möglich; dafür aber kann damit die Bewegungsenergie der Bruchstücke genau bestimmt werden.

Hierbei beobachteten die Forscher, dass die freigesetzte Bewegungsenergie viel geringer war als erwartet. Die fehlende Energie kann nur im Produktmolekül stecken und ist extrem hoch – das Molekül ist also „heiß“, wie auch von einigen Theoretikern vorhergesagt. Dies bedeutet jedoch, dass in dem heftig schwingenden Produkt der kalten Reaktion immer noch häufige Platzwechsel von Atomen möglich sind. Das in interstellaren Gaswolken gebildete Molekül kann daher beide geometrischen Formen annehmen, während es seine hohe innere Energie allmählich, ähnlich wie eine langsam erlöschende Glühbirne, in die Umgebung abstrahlt. Sehr häufig, in etwa der Hälfte aller Fälle, entsteht dabei das energiereiche Isomer. Sein Auftreten in den kalten interstellaren Molekülwolken spiegelt also – wie jetzt im Labor belegt – seinen dortigen Entstehungsprozess durch einen weiten Umweg über ionisierende Strahlung wider.

Originalveröffentlichung:
“Cold electron reactions producing the energetic isomer of hydrogen cyanide in interstellar clouds”, Mario B. Mendes et al., The Astrophysical Journal Letters, 746, L8 (doi:10.1088/2041-8205/746/1/L8), http://stacks.iop.org/2041-8205/746/L8

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Dr. Bernold Feuerstein Max-Planck-Institut

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