Galaxienwachstum ohne Zusammenstöße

In den ersten Milliarden Jahren nach dem Urknall vergrößerten sich die Massen typischer Galaxien dramatisch; zu verstehen, wie und warum das passierte, ist eines der wichtigsten Ziele der modernen Astrophysik. Die Ergebnisse der neuen Untersuchungen erscheinen in der Ausgabe vom 14. Oktober der Fachzeitschrift Nature.

Die ersten Galaxien entstanden bereits, als das Universum weniger als eine Milliarde Jahre alt war. Sie waren damals freilich viel kleiner als die riesigen Sternsysteme (man denke an unsere Milchstraße), die wir heute sehen. Offenbar muss sich die durchschnittliche Größe einer Galaxie in der Zwischenzeit erhöht haben. Ein wichtiger Wachstumsmechanismus besteht darin, dass Galaxien miteinander zusammenstoßen und sich dann zu größeren Systemen vereinigen. Es gibt aber auch noch eine andere, „sanftere“ Methode.

Dieser anderen Art des Galaxienwachstums ist ein Team aus europäischen Astronomen nun mit dem Very Large Telescope der ESO nachgegangen: Junge Galaxien könnten wachsen, indem sie Ströme aus kühlem Wasserstoff- und Heliumgas einsaugen, die das frühe Universum durchziehen. Aus diesem Urmaterial bilden sich in den Galaxien dann neue Sterne. Junge Galaxien könnten demnach auf zwei verschiedene Arten größer werden: entweder durch die Verschmelzung mit anderen Galaxien oder durch diesen als Akkretion bezeichneten Prozess. Analog kann eine Firma expandieren, indem sie mit anderen Firmen fusioniert oder indem sie selbst zusätzliche Mitarbeiter einstellt.

Giovanni Cresci vom italienischen Osservatorio Astrofisico di Arcetri bei Florenz, der Leiter des Wissenschaftlerteams, fasst zusammen: “Die neuen VLT-Ergebnisse sind der erste direkte Nachweis dafür, dass die Akkretion von Gas auf frühe Galaxien tatsächlich stattgefunden hat, und dass sie ausreichte, um starke Sternentstehung und das Wachsen von massereichen Galaxien im jungen Universum anzuregen.” Diese Entdeckung ist ein wichtiger Schritt für unser Verständnis der Entwicklung des Universums vom Urknall bis heute.

Für ihre Untersuchungen hatten die Astronomen sich drei sehr weit entfernte Galaxien ausgesucht und überprüft, ob sich bei diesen Galaxien Hinweise auf aus der Umgebung einströmendes Gas und auf die daraus resultierende Entstehung neuer Sterne finden. Dabei wurde sorgfältig darauf geachtet, dass die als Beispiele ausgewählten Galaxien nicht durch Wechselwirkung mit anderen Galaxien gestört waren. Die Galaxien waren zu dem Zeitpunkt als das Licht, das wir heute von ihnen empfangen, ausgesendet wurde – etwa zwei Milliarden Jahre nach dem Urknall, was einer Rotverschiebung von z=3 entspricht – symmetrische, langsam rotierende Scheiben ähnlich wie die Milchstraße.

Im heutigen Universum finden sich schwere Elemente [1] vornehmlich in den Zentralbereichen der Galaxien. Als Crescis Team dagegen die ausgewählten fernen Galaxien mit dem SINFONI-Spektrografen [2] am VLT kartierte, stellten die Wissenschaftler mit Begeisterung fest, dass im Zentralbereich der Galaxien, in denen zahlreiche neue Sterne entstehen, in allen drei Fällen nur geringe Spuren schwerer Elemente zu finden waren. Dies deutet darauf hin, dass das Material, das die Sternentstehung befeuert, seinen Ursprung in dem metallarmen Gas aus der Umgebung der Galaxie hat. Man hat die jungen Galaxien damit praktisch auf frischer Tat dabei ertappt, wie sie frisches Gas akkretieren und zur Bildung neuer Sterne nutzen.

„Das SINFONI-Instrument am VLT hat neue MögIichkeiten zur Untersuchung der chemischen Eigenschaften von weit entfernten Galaxien eröffnet. Mit ihm kann man nicht nur Informationen in zwei räumlichen Dimensionen – also Bilder – gewinnen, sondern zusätzlich in einer dritten, spektralen Dimension. Auf diese Weise lassen sich Bewegungen innerhalb einer Galaxie und die chemische Zusammensetzung des interstellaren Gases messen“, sagt Cresci.

Endnoten:

[1] Abweichend vom Sprachgebrauch der Chemiker bezeichnen Astronomen alle Elemente schwerer als Wasserstoff und Helium als „schwere Elemente“. Das Gas, das das frühe Universum erfüllte, bestand fast ausschließlich aus Wasserstoff und Helium. Die ersten Generationen von Sternen erzeugten durch Kernfusion in ihrem Inneren aus diesem Urmaterial schwerere Elemente wie Sauerstoff, Stickstoff und Kohlenstoff. Die intensiven Teilchenströme der massereichen Sterne, sowie Supernovaexplosionen am Ende ihres Lebens, verteilten das mit schwereren Elementen angereicherte Material im interstellaren Raum, so dass der Anteil an schwereren Elementen in den Galaxien langsam anstieg.

[2] Astronomen können die „Fingerabdrücke“ der unterschiedlichen chemischen Elemente in entfernten Galaxien nachweisen, indem sie das schwache Licht der Galaxie mit leistungsstarken Teleskopen und Spektrografen in seine einzelnen Farben zerlegen. Auf diese Weise lässt sich auch der Anteil von schweren Elementen bestimmen. Mit dem SINFONI-Instrument am VLT lassen sich sogar für jeden Teil eines Objektes einzelne Spektren aufnehmen – und das mit einer Genauigkeit, die Studien wie die hier vorgestellte überhaupt erst ermöglicht. Daraus lässt sich eine Karte erstellen, aus der man den Anteil an schweren Elementen in verschiedenen Bereichen einer Galaxie ablesen und außerdem bestimmen kann, wo in der Galaxie besonders starke Sternentstehung stattfindet.

Weitere Informationen

Die hier vorgestellten Forschungsergebnisse erscheinen am 14. Oktober unter dem Titel „Gas accretion in distant galaxies as the origin of chemical abundance gradients“ in einem Artikel von Cresci et al. in der Fachzeitschrift Nature.

Die beteiligten Wissenschaftler sind G. Cresci, F. Mannucci und L. Magrini (Osservatorio Astrofisico di Arcetri, Italien), R. Maiolino (INAF, Osservatorio Astronomico di Roma, Italien), sowie A. Marconi und A. Gnerucci (Universitá di Firenze, Italien).

Mit dem Spectrograph for INtegral Field Observations in the Near Infrared (kurz SINFONI, wörtlich etwa „Räumlich aufgelöst arbeitender Spektrograf für das nahe Infrarot“) werden spektroskopische Untersuchungen ausgedehnter Objekte im Nahinfrarotbereich durchgeführt. SINFONI besteht aus einem von der ESO entwickelten Modul für Adaptive Optik zum Ausgleich atmosphärischer Verzerrungen und aus dem Spektrografen SPIFFI (SPectrometer for Infrared Faint Field Imaging). SPIFFI wurde von der NOVA-Kollaboration niederländischer Universitäten und dem Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching konzipiert und gebaut.

Die Europäische Südsternwarte ESO (European Southern Observatory) ist die führende europäische Organisation für astronomische Forschung und das wissenschaftlich produktivste Observatorium der Welt. Getragen wird die Organisation durch ihre 14 Mitgliedsländer: Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Italien, die Niederlande, Österreich, Portugal, Spanien, Schweden, die Schweiz, die Tschechische Republik und das Vereinigte Königreich. Die ESO ermöglicht astronomische Spitzenforschung, indem sie leistungsfähige bodengebundene Teleskope entwirft, konstruiert und betreibt. Auch bei der Förderung internationaler Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Astronomie spielt die Organisation eine maßgebliche Rolle. Die ESO betreibt drei weltweit einzigartige Beobachtungsstandorte in Nordchile: La Silla, Paranal und Chajnantor. Auf dem Paranal betreibt die ESO mit dem Very Large Telescope (VLT) das weltweit leistungsfähigste Observatorium für Beobachtungen im Bereich des sichtbaren Lichts, sowie VISTA, das größte Durchmusterungsteleskop der Welt. Die ESO ist der europäische Partner für den Aufbau des Antennenfelds ALMA, das größte astronomische Projekt überhaupt. Derzeit entwickelt die ESO das European Extremely Large Telescope (E-ELT) für Beobachtungen im Bereich des sichtbaren und Infrarotlichts, mit 42 Metern Spiegeldurchmesser ein Großteleskop der Extraklasse.

Die Übersetzungen von englischsprachigen ESO-Pressemitteilungen sind ein Service des ESO Science Outreach Network (ESON), eines internationalen Netzwerks für astronomische Öffentlichkeitsarbeit, in dem Wissenschaftler und Wissenschaftskommunikatoren aus allen ESO-Mitgliedsstaaten (und einigen weiteren Ländern) vertreten sind. Deutscher Knoten des Netzwerks ist das Haus der Astronomie am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg.

Kontakte

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ESO Science Outreach Network – Haus der Astronomie
Deutschland
Tel: 06221 528 226
E-Mail: eson@mpia.de
Giovanni Cresci
Osservatorio Astrofisico di Arcetri
Italy
Tel: +39 055 275 2230
Cell: +39 335 680 3756
E-Mail: gcresci@arcetri.astro.it
Douglas Pierce-Price
ESO
Garching bei München, Germany
Tel: +49 89 3200 6759
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ESO, La Silla, Paranal, E-ELT and Survey telescopes Public Information Officer
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