Die Erdnuss im Herzen unserer Galaxie

Diese künstlerische Darstellung zeigt, wie die Milchstraße von der Seite aussehen würde, also aus einer vollkommen anderen Perspektive als von der Erde. Der zentrale Bulge erscheint als ein erdnussförmiger, glühender Ball aus Sternen und die Spiralarme und ihre zugehörigen Staubwolken bilden ein schmales Band.<br><br>Herkunftsnachweis:<br>ESO/NASA/JPL-Caltech/M. Kornmesser/R. Hurt<br>

Zwei Gruppen von Astronomen, eine davon vom Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik in Garching, haben mit Daten von ESO-Teleskopen die bisher beste dreidimensionale Karte des Zentralbereichs unserer Milchstraße erstellt.

Dabei stellten die Wissenschaftler fest, dass die inneren Regionen aus bestimmten Blickwinkeln X-förmig oder wie eine Erdnuss aussehen. Diese seltsame Struktur wurde mit öffentlich zugänglichen Daten vom VISTA-Durchmusterungsteleskop der ESO in Kombination mit Messungen der Bewegungen von Hunderten besonders leuchtschwacher Sterne im zentralen Bulge kartiert.

Einer der wichtigsten und massereichsten Teile unserer Heimatgalaxie ist der sogenannte Bulge, eine zentrale Verdickung der Milchstraße. Diese riesige, zentrale Wolke aus etwa 10 Milliarden Sternen hat einen Durchmesser von Tausenden von Lichtjahren. Bislang jedoch war es nicht gelungen ihre Struktur und ihren Ursprung nachzuvollziehen.

Unglücklicherweise ist die Sicht von unserem Standort in der galaktischen Scheibe auf diese zentrale Region – in einer Entfernung von etwa 27.000 Lichtjahren – durch dichte Gas- und Staubwolken stark eingeschränkt. Astronomen können nur dann einen guten Blick auf den Bulge bekommen, indem sie bei längeren Wellenlängen beobachten, zum Beispiel im Infrarotlicht, das Staubwolken durchdringen kann.

Frühere Beobachtungen im Rahmen der 2MASS Infrarot-Himmelsdurchmusterung hatten bereits angedeutet, dass der Bulge eine rätselhafte X-förmige Struktur besitzen könnte. Nun haben zwei Forschergruppen anhand neuer Beobachtungen von mehreren ESO-Teleskopen einen viel klareren Blick auf die Struktur des Bulge bekommen.

Die erste Gruppe vom Max-Planck-Institut für Extraterrestische Physik (MPE) in Garching, hat die VVV-Nahinfrarot-Durchmusterung [1] des VISTA-Teleskops am Paranal-Observatorium der ESO in Chile (eso1101, eso1128, eso1141, eso1242 und eso1309) verwendet. Diese neue, öffentlich zugängliche Durchmusterung kann dreißig Mal leuchtschwächere Sterne detektieren als frühere Bulge-Durchmusterungen. Das Astronomenteam hat insgesamt 22 Millionen Sterne identifiziert, die zu einer Unterklasse der Roten Riesen gehören und deren wohlbekannte Eigenschaften es erlauben, ihre Entfernungen zu bestimmen [2].

„Die Tiefe des VISTA-Sternkatalogs übersteigt bei Weitem vorhergehende Arbeiten. Wir können fast überall ganze Populationen dieser Sterne nachweisen, nur die am stärksten verdunkelten Regionen bleiben uns verborgen”, erklärt Christopher Wegg vom MPE, Erstautor des ersten Fachartikels. „Aus dieser Sternverteilung können wir dann eine dreidimensionale Karte des galaktischen Bulges erstellen. Es ist das erste Mal, dass solch eine Karte ohne die Annahme eines Models für die Form des Bulges erstellt werden konnte.”

„Wir haben festgestellt, dass die innere Region unserer Galaxie von der Seite wie eine Erdnuss eingehüllt in ihre Schale aussieht, von oben dagegen wie ein langgezogener Balken”, ergänzt Ortwin Gerhard, Koautor des ersten Fachartikels und Leiter der Arbeitsgruppe am MPE [3].

Das zweite internationale Team unter der Leitung des chilenischen Doktoranden Sergio Vásquez von der Pontificia Universidad Católica de Chile und von der ESO in Santiago de Chile hat eine andere Herangehensweise gewählt, um die Struktur des Bulge zu ermitteln. Durch den Vergleich von Bildern, die im Abstand von elf Jahren mit dem MPG/ESO 2,2-Meter-Teleskop aufgenommen wurden, konnten sie die winzigen Verschiebungen messen, die durch die Bewegungen der Sterne im Bulge über den Himmel verursacht werden. Kombiniert mit Messungen der Bewegungen derselben Sterne zur Erde hin oder von ihr weg, ließen sich die Bewegungen von mehr als 300 Sternen in drei Dimensionen kartieren [4].

„Es ist das erste Mal, dass man eine so große Anzahl an Geschwindigkeiten in drei Dimensionen für einzelne Sterne von beiden Seiten des Bulges ermitteln konnte”, fasst Vásquez zusammen. „Die Sterne, die wir beobachtet haben, scheinen entlang der Arme eines X-förmigen Bulges zu wandern, während ihre Umlaufbahnen sie auf und ab und dabei sogar aus der Ebene der Milchstraße heraus führen. Das alles passt sehr gut zu den Vorhersagen aktueller Modelle!”

Astronomen gehen davon aus, dass die Milchstraße Anfangs eine reine Scheibe aus Sternen war, die vor Milliarden von Jahren einen flachen Balken gebildet haben [5]. Dessen innerer Teil hat sich anschließend gewölbt und die dreidimensionale, erdnussförmige Gestalt angenommen, die in den neuen Beobachtungen zu sehen ist.

Endnoten
[1] VVV steht für „VISTA Variables in the Via Lactea“. Es handelt sich dabei um eine von sechs großen Himmelsdurchmusterungen, die mit dem VISTA-Teleskop durchgeführt wurde. Die Daten von der VVV-Durchmusterung sind für die internationale Wissenschaftsgemeinde über das Wissenschaftsarchiv der ESO allgemein zugänglich, was die Forschungsarbeiten am MPE erst möglich machte.

[2] Die sogenannten „Red clump giant stars”, oder rote Klumpen-Riesensterne wurden für diese Studie ausgewählt, da sie als Standardkerzen verwendet werden können: In diesem Lebensstadium eines Riesensterns ist ihre Helligkeit fast unabhängig von ihrem Alter oder ihrer Zusammensetzung. Die Menge an Gas und Staub, die die Sterne verdunkeln, wurde direkt aus den beobachteten Farben der roten Klumpen-Sterne berechnet, so dass ihre Helligkeitsverteilung ohne Abdunklung gemessen werden kann. Da rote Klumpen-Sterne alle fast dieselbe intrinsische Helligkeit haben, gibt dies die ungefähre Entfernung zu jedem Stern an. Die gute räumliche Abdeckung der VVV-Durchmusterung hat es möglich gemacht, entsprechende Messungen in der gesamten inneren Region der Milchstraße durchzuführen und aus diesen die dreidimensionaleStruktur zu rekonstruieren.

[3] Ähnliche erdnussförmige Strukturen wurden schon in den Bulges anderer Galaxien beobachtet und ihre Entstehung lässt sich mit Computersimulationen vorherberechnen, die zeigen, dass die Erdnussform von Sternen gebildet wird, die sich in einer X-förmigen Struktur anordnen.

[4] Die Beobachtungen der Radialgeschwindigkeiten wurden mit dem FLAMES-GIRAFFE-Spektrografen am Very Large Telescope der ESO und mit dem IMACS-Spektrographen am Las-Campanas-Observatorium durchgeführt.

[5] Bei vielen Galaxien, einschließlich der Milchstraße, verläuft ein langes, schmales Band durch ihre Zentralregion, das als Balken bezeichnet wird.

Weitere Informationen
Die hier vorgestellten Ergebnisse von C. Wegg et al. erscheinen demnächst unter dem Titel „Mapping the three-dimensional density of the Galactic bulge with VVV red clump stars” in der Fachzeitschrift Monthly Notices of the Royal Astronomical Society. Die ebenfalls vorgestellten Ergebnisse von S. Vásquez sind vor kurzem unter dem Titel „3D kinematics through the X-shaped Milky Way bulge” in der Fachzeitschrift Astronomy & Astrophysics erschienen.
Die beteiligten Wissenschaftler der ersten Gruppe sind C. Wegg und O. Gerhard (beide vom Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik, Garching).

Die Wissenschaftler der zweiten Gruppe sind S. Vásquez (Pontificia Universidad Católica de Chile; ESO, Santiago, Chile), M. Zoccali (Pontificia Universidad Católica de Chile), V. Hill (Université de Nice Sophia-Antipolis, CNRS, Observatoire de la Côte d’Azur, Nizza, Frankreich), A. Renzini (INAF − Osservatorio Astronomico di Padova, Italien; Observatoire de Paris, Frankreich), O. A. González (ESO, Santiago de Chile), E. Gardner (Université de Franche-Comté, Besançon, Frankreich), V. P. Debattista (University of Central Lancashire, Preston, Großbritannien), A. C. Robin (Université de Franche-Comté), M. Rejkuba (ESO, Garching), M. Baffico (Pontificia Universidad Católica de Chile), M. Monelli (Instituto de Astrofísica de Canarias, La Laguna, Tenerife, Spanien; Universidad de La Laguna, La Laguna, Tenerife, Spanien), V. Motta (Universidad de Valparaiso, Chile) und D. Minniti (Pontificia Universidad Católica de Chile; Vatikan-Observatorium).

Die Europäische Südsternwarte ESO (European Southern Observatory) ist die führende europäische Organisation für astronomische Forschung und das wissenschaftlich produktivste Observatorium der Welt. Getragen wird die Organisation durch ihre 15 Mitgliedsländer: Belgien, Brasilien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Österreich, Portugal, Spanien, Schweden, die Schweiz und die Tschechische Republik. Die ESO ermöglicht astronomische Spitzenforschung, indem sie leistungsfähige bodengebundene Teleskope entwirft, konstruiert und betreibt.

Auch bei der Förderung internationaler Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Astronomie spielt die Organisation eine maßgebliche Rolle. Die ESO betreibt drei weltweit einzigartige Beobachtungsstandorte in Nordchile: La Silla, Paranal und Chajnantor. Auf dem Paranal betreibt die ESO mit dem Very Large Telescope (VLT) das weltweit leistungsfähigste Observatorium für Beobachtungen im Bereich des sichtbaren Lichts und zwei Teleskope für Himmelsdurchmusterungen: VISTA, das größte Durchmusterungsteleskop der Welt, arbeitet im Infraroten, während das VLT Survey Telescope (VST) für Himmelsdurchmusterungen ausschließlich im sichtbaren Licht konzipiert ist. Die ESO ist der europäische Partner bei den neuartigen Verbundteleskop ALMA, dem größten astronomischen Projekt überhaupt. Derzeit entwickelt die ESO ein Großteleskop mit 39 Metern Durchmesser für Beobachtungen im Bereich des sichtbaren und Infrarotlichts, das einmal das größte optische Teleskop der Welt werden wird: das European Extremely Large Telescope (E-ELT).

Die Übersetzungen von englischsprachigen ESO-Pressemitteilungen sind ein Service des ESO Science Outreach Network (ESON), eines internationalen Netzwerks für astronomische Öffentlichkeitsarbeit, in dem Wissenschaftler und Wissenschaftskommunikatoren aus allen ESO-Mitgliedsländern (und einigen weiteren Staaten) vertreten sind. Deutscher Knoten des Netzwerks ist das Haus der Astronomie in Heidelberg.

Kontaktinformationen
Carolin Liefke
ESO Science Outreach Network – Haus der Astronomie
Heidelberg, Deutschland
Tel: 06221 528226
E-Mail: eson-germany@eso.org
Christopher Wegg
Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik
Garching bei München, Germany
Tel: +49 89 30000 3715
E-Mail: wegg@mpe.mpg.de
Ortwin Gerhard
Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik
Garching bei München, Germany
Tel: +49 89 30000 3539
E-Mail: gerhard@mpe.mpg.de
Sergio Vásquez
Instituto de Astrofísica — P. Universidad Católica
Santiago, Chile
Tel: +56 2 2354 4940
E-Mail: svasquez@astro.puc.cl
Manuela Zoccali
Instituto de Astrofísica — P. Universidad Católica
Santiago, Chile
Tel: +56 2 2354 4940
E-Mail: mzoccali@astro.puc.cl
Richard Hook
ESO education and Public Outreach Department
Garching bei München, Germany
Tel: +49 89 3200 6655
Handy: +49 151 1537 3591
E-Mail: rhook@eso.org
Dies ist eine Übersetzung der ESO-Pressemitteilung eso1339.

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