Entscheidender Schritt zum Verständnis der initialen Blutgerinnung

Physikern aus Augsburg und München, die im Exzellenz-Cluster „Nanosystems Initiative Munich“ (NIM) kooperieren, ist es gemeinsam mit Medizinern der Universität Münster gelungen, das Rätsel der initialen Blutgerinnung zu lösen.

Den Beitrag „Shear-induced unfolding triggers adhesion of von Willebrand factor fibers“, in dem S. W. Schneider, S. Nuschele, A. Wixforth, C. Gorzelanny, A. Alexander-Katz, R. R. Netz und M. F. Schneider ihre einschlägigen Untersuchungen und deren Ergebnisse beschreiben, wurde jetzt ) bereits vor dem Erscheinen der Druckversion in der Early Edition der US-amerikanischen Zeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) publiziert (http://www.pnas.org/papbyrecent.shtml). Die PNAS zählen zu den weltweit angesehensten Zeitschriften in den Naturwissenschaften.

Wie wird der VWF aktiviert?

Wohl die meisten hätten die Behauptung unterschrieben, dass der Ablauf der Blutgerinnung, die letztendlich zum Verschluss von Verletzungen in Blutgefäßen führt, schon lange bis in alle Details verstanden wird. Ein großes Rätsel der Blutgerinnung war bislang allerdings immer noch ungeklärt: die Aktivierung des von-Willebrand-Faktors (VWF). Dieses hoch spezialisierte Makromolekül sorgt in einem gesunden Organismus für die Einleitung der Blutgerinnung nach einer Verletzung eines Blutgefässes. Die von-Willebrand-Erkrankung, bei der der Faktor entweder in einer krankhaft veränderten Form oder in zu geringen Mengen vorliegt, ist die häufigste Erbkrankheit, die zu erhöhter Blutungsneigung führt. Seit der Entdeckung des VWF im Jahre 1924 durch den Finnen Erik von Willebrand brüteten Wissenschaftler über der Frage, wie er aktiviert wird. Der von-Willebrand-Faktor ist das größte Eiweiß im menschlichen Blut und bleibt unter bestimmten Bedingungen an der Wand von verletzten Blutgefäßen kleben. Das bietet vorbeischwimmenden Blutplättchen die Möglichkeit zur Anhaftung. Damit kann eine Verletzung geschlossen werden. Doch die Frage, wie es zur Anheftung an die Gefäßwand kommt, blieb ungeklärt.

Weshalb höhere Anhaftung bei hohen Fließgeschwindigkeiten?

Ein weiteres Rätsel warfen Untersuchungen auf, die zeigten, dass die Anhaftung bei hohen Strömungsgeschwindigkeiten effektiver funktionierte als bei niedrigen. Dass dies so ist, ist für den Menschen einerseits absolut lebensnotwendig. Denn durch den im Herzen erzeugten Blutdruck werden gerade in kleineren Gefäßen – z. B. in den Arteriolen – Verletzungen der Gefäßwände erzeugt, und d. h., dass der VWF gerade dort besonders „fleißig“ und effektiv arbeiten, wenn der Mensch überleben soll. Dass hier hohe Fließgeschwindigkeiten eine bessere Anhaftung bewirken, passt andererseits nicht zu unserer allgemeinen Erfahrung, dass etwa der Versuch, aus einem stark strömenden Gewässer ans Ufer zu gelangen, weitaus schwieriger ist als bei einem langsam dahin fließenden Strom. Das Rätsel, weshalb der VWF sich gewissermaßen konträr zu dieser Erfahrung verhält, scheint nun gelöst.

Der VWF als „mechanisch schaltbares“ Molekül

Bei der bisher üblichen Herangehensweise an diese Frage standen einseitig enzymatische und biochemische Aspekte im Zentrum. Offensichtlich sind bei der Aktivierung des VWF aber mechanische Kräfte am Werk, große Scherkräfte nämlich, die bei hohen Strömungsgeschwindigkeiten – also unter Bedingungen, wie sie in den Arteriolen des menschlichen Blutkreislaufes herrschen – wirksam sind. Insofern mussten sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen zusammentun, um Fortschritte bei der Erforschung des Phänomens zu erzielen. Solch ein entscheidender Fortschritt hat sich nun aus der Zusammenarbeit von Medizinern aus Münster einerseits mit Physiker-Arbeitsgruppen der Universität Augsburg und der TU München andererseits ergeben, die der im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes geförderten „Nanosystems Initiative Munich“ (Sprecheruniversität LMU München) angehören: Die vom „interdisziplinären“ Gebrüderpaar S. W. Schneider (Münster) und M. F. Schneider (Augsburg) vor zwei Jahren in Gang gesetzte Forschungskooperation hat im Ergebnis den von-Willebrand-Faktor als ein mittels Strömungsgeschwindigkeit „mechanisch schaltbares“ Molekül identifiziert. „Dieser Erfolg“, meint der Augsburger Nanowissenschaftler A. Wixforth, „ist eine Paradebeispiel für die Zukunftsträchtigkeit interdisziplinärer Forschung in der Nanowelt, wie sie als Idee hinter der 'Nanosystems Initiative Munich' steht.“

Strömungssimulation mit Mikrofluidik

Um den Effekt der Aktivierung des von-Willebrand-Faktors genauer zu erforschen, mussten die Wissenschaftler zunächst eine Versuchsanordnung finden, die die Bedingungen in den Blutkapillaren widerspiegelt. Dafür nutzten sie vor allem die in den letzten Jahren in Augsburg entwickelte Methode des so genannten „Chip Labors“: Auf einer Chipoberfläche mit einer Größe von einigen Millimetern wird hier unter Nutzung von akustischen Oberflächenwellen („Nanoerdbeben“) eine Strömung in einem nur wenige Mikrometer breiten Kanal erzeugt.

Von der 2 Mikrometer großen Kugel zum 100 Mikrometer langen Faden

Bei den in diesem „Chip Labor“ erzeugten verschiedenen Strömungsgeschwindigkeiten ergab die Beobachtung des von-Willebrand-Faktors Erstaunliches: Sehr hohe Fließgeschwindigkeiten führen dazu, dass der VWF plötzlich seine Form ändert und von einer ca. 2 Mikrometer großen Kugel zu einem 100 Mikrometer langen Faden wird. Dieser Vorgang konnte mit Hilfe theoretischer Modelle in computergestützten Simulationen nachgespielt werden. Durch diese Entfaltung werden Bindungsstellen zur Verfügung gestellt, die vorher im Inneren der Kugel lagen. Mit diesen Bindungsstellen kann der VWF nun sehr effektiv an verschiedene Eiweiße, z. B. an Kollagene, der verletzten Gefäßwand anbinden. Zudem kommt es unter dauerhaft starker Strömung zur Quervernetzung von mehreren VWF-Fäden. An dieses Faser-Netzwerk können Blutplättchen leicht und verlässlich anbinden, was zur effektiven Bildung eines kleinen Blutpfropfens und damit zum Wundverschluss führt.

Grundlage für neue Therapieansätze

Im Ergebnis liefert die Zusammenarbeit der Münsteraner Mediziner und der NIM-Physiker aus Augsburg und München damit fundamental neue Einsichten zum besseren Verständnis von Blutgerinnungsstörungen. Diese neuen Einsichten lassen Gefäßkrankheiten wie z. B. die Arteriosklerose in einem neuen, medizinisch-physikalischen Licht erscheinen, das zweifellos zu neuartigen Therapieansätzen führen wird.

Weitere Informationen:
http://www.pnas.org/papbyrecent.shtml – Originalbeitrag
http://www.physik.uni-augsburg.de/exp1/ – Arbeitsgruppe Universität Augsburg
http://derma.klinikum.uni-muenster.de/mitarbeiter/index.html – Arbeitsgruppe Universität Muenster
http://einrichtungen.physik.tu-muenchen.de/T37/ – Arbeitsgruppe TU Muenchen
http://www.nano-initiative-munich.de/ – Nanosystems Initiative Munich
Korrektur vom 02.05.2007
Ansprechpartner:
Dr. Matthias F. Schneider
Institut für Physik
Universität Augsburg
Universitätsstraße 1
D-86159 Augsburg
Telefon: +49 (0)821/598-3311
Fax: +49 (0)821/598-3225
matthias.schneider@physik.uni-augsburg.de

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Klaus P. Prem idw

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