Mit revolutionären Materialien Grenzen sprengen

Um Materialien zu entwickeln, die unter extremen Bedingungen zu Höchstleistungen fähig sind, haben sich Forschungsinstitute aus ganz Europa zusammengetan. ExtreMat heißt das Integrierte Projekt der Europäischen Union, das von einem europäischen Forschungs- und Industriekonsortium unter Leitung des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik (IPP) in Garching umgesetzt wird.

Auf der HANNOVER MESSE 2008 zeigt das Projekt auf einem Gemeinschaftsstand einen Querschnitt aller Bereiche von ExtreMat. Die Halle 2, der Innovationsmarkt Research & Technology, ist eine internationale Drehscheibe des Technologietransfers. ExtreMat ist eines der Beispiele für die vielen Synergien, die aufgrund der industriellen Branchenvielfalt auf der HANNOVER MESSE entstehen. Auch für die Fachbesucher des benachbarten Zulieferbereichs Subcontracting oder des Schwerpunktthemas Energietechnologien ergeben sich hier interessante Ansatzpunkte für die industrielle Anwendung innovativer Materialien. Fragen zum Projekt ExtreMat beantworten der wissenschaftliche Koordinator Dr. Christian Linsmeier vom Max-Planck-Institut für Plasmaphysik, Bereich Materialforschung, und Dr. Uwe Schüssler von der Bayern Innovativ GmbH, verantwortlich für den Wissenstransfer aus ExtreMat.

Welchen Umfang hat das Projekt – personell und finanziell?

Linsmeier: Das Projekt läuft über fünf Jahre und hat ein Kostenvolumen von rund 35 Mio. Euro, wovon 17,4 Mio. Euro von der EU übernommen werden. 37 beteiligte Organisationen aus zwölf Ländern decken alle Arbeitsfelder von der Grundlagen- über die anwendungsnahe Forschung bis hin zur industriellen Entwicklung ab. Weit über 100 Materialforscher arbeiten aktiv im Projekt mit.

Was genau wollen Sie mit dem Projekt erreichen?

Schüssler: Ziel von ExtreMat ist die Entwicklung neuer Materialien, die extremen Belastungen gewachsen sind. Die innovativen Höchstleistungsmaterialien – zum Beispiel Werkstoffe, mit denen extreme Wärmeflüsse abgeführt werden können, oder ultradünne Schutzschichten, die auch bei hohen Temperaturen für schädigende Stoffe undurchlässig bleiben – sollen neue Anwendungsbereiche in Energietechnik, Elektronik und Raumfahrt erschließen. Anwendungsbeispiele sind sehr effektive Kühlkörper für die Hochleistungselektronik, neue Triebwerke und Hitzeschilde für die Raumfahrt oder bestrahlungsresistente Bauteile für den Einsatz in der Fusionsforschung oder in der Kerntechnik. Zusätzlich werden diese neuen Materialien als „spin-offs“ auch auf ihre Tauglichkeit für Bremsen oder in Gasturbinen untersucht.

Ziel von ExtreMat ist es, aktuelle Grenzen der Materialtechnologien zu überwinden. Wo liegen diese Grenzen in den verschiedenen Feldern? Und konnten Sie schon Grenzen verschieben? Oder werden Sie in naher Zukunft eine Grenze überwinden?

Linsmeier: Die Grenzen in den ExtreMat-Materialklassen vor dem Projektstart lassen sich wie folgt beschreiben:

Selbst-passivierende Schutzschichten: maximal 1200 °C unter sauerstoffhaltiger Umgebung, starke Erosion in wasserstoffhaltiger Umgebung (Plasma).

Wärmesenken-Materialien: Wärmeabfuhr von bis zu 15 MW/m2 bei einer Betriebstemperatur von 300 °C. Wärmeleitfähigkeit von Kupferlegierungen.

Strahlungsbeständige Materialien: Neutronenschädigung bis zu zehn dpa (d. h. im Mittel zehn Umlagerungen eines jeden Gitteratoms) bei Betriebstemperaturen von bis zu 500 °C.

Integration und Komponenten: Die bisher verfügbaren Fügetechnologien für Metall-Keramik- und Keramik-Keramik-Verbindungen stellen eine wesentliche Fehlerquelle dar, die oft die Bauteilsicherheit beeinträchtigt.

In allen genannten Bereichen wurden in ExtreMat mittlerweile substanzielle Fortschritte erzielt.

Wo liegen Grenzen, die sich Ihrer Einschätzung nach nicht überwinden lassen?

Linsmeier: Was vor zehn, 20 oder 30 Jahren technisch unmöglich schien, ist heute bereits machbar. Bestehende Grenzen gilt es durch innovative Materialforschung immer wieder neu auszuloten und zu verschieben. Hierbei sind völlig neuartige Ansätze, wie sie von einzelnen Universitäten oder Grundlagenforschungseinrichtungen verfolgt werden, von höchster Bedeutung.

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Leistungen des Projekts bis jetzt?

Schüssler: Neben hervorragenden Fortschritten auf den technisch-wissenschaftlichen Feldern des Projekts ist eine wesentliche Leistung von ExtreMat, eine Zusammenarbeit angestoßen zu haben zwischen Partnern, die bisher in der Materialforschung noch nie miteinander kooperiert hatten, insbesondere mit Industriepartnern über Branchengrenzen hinweg.

In welchen Anwendungsbereichen ist der Bedarf an neuen Höchstleistungswerkstoffen am größten?

Schüssler: Zusätzlich zu den ExtreMat-Anwendungsfeldern Raumfahrt, Elektronik und Energietechnik gibt es Bedarf in der petrochemischen Industrie und bei einzelnen Anwendungen auf dem Mobilitätssektor. Diese werden im Rahmen von ExtreMat als „Spin-off-Anwendungen“ untersucht.

Welche Anwendungsbereiche werden über kurz oder lang durch neue Materialien ganz anders aussehen als heute?

Linsmeier: Als Querschnittstechnologie liefern neue Werkstoffe häufig einen nicht auf den ersten Blick erkennbaren Beitrag zu wichtigen Innovationen. Am spektakulärsten dürfte wohl die Energietechnik durch neue Materialien revolutioniert werden. Neue Werkstoffe sind der Schlüssel zur Erschließung einer Treibhausgasfreien Energieversorgung, sei es durch Fusion, Wasserstofftechnologien oder den Einfang von CO2 in Kohlekraftwerken.

Andere Auswirkungen werden weniger offensichtlich sein. In der Elektronik stellt bereits jetzt das Wärmeabfuhrproblem die Grenze für die Kompaktierung von elektronischen Bauteilen und Computern dar. Hier wird ExtreMat dazu beitragen, diese Grenze zu verschieben.

In welchem Bereich der Materialtechnologien werden zurzeit die größten Innovationssprünge gemacht?

Linsmeier: Im Rahmen des ExtreMat-Materialspektrums haben wir die größten Entwicklungssprünge bei den Schutzmaterialien und den Wärmesenken-Materialien zu verzeichnen. Dies ermöglicht für die Raumfahrt eine wesentlich höhere Sicherheit bei dem Wiedereintritt („re-entry“) von Raumfahrzeugen in die Erdatmosphäre und den Bau von kompakteren Hochleistungselektronikkomponenten.

Was werden Sie 2008 auf der HANNOVER MESSE zeigen?

Schüssler: Auf der HANNOVER MESSE 2008 werden wir einen Querschnitt durch das gesamte Projekt ExtreMat zeigen. Dabei werden alle Themenbereiche dargestellt. Schwerpunkt sind neben den Entwicklungsleistungen von allen Projektpartnern auch die Aspekte Nutzung und Vermarktung der Ergebnisse. Auf der HANNOVER MESSE haben wir die Möglichkeit, die ExtreMat-Ergebnisse in einem industriellen Umfeld zu präsentieren. Für kleinere ExtreMat-Partner, die eine eigene Messepräsentation nicht realisieren können, ergibt sich so die hervorragende Möglichkeit, internationale Kontakte zu Interessenten aus der Industrie zu knüpfen.

Bitte beschreiben Sie die Kernthemen, die das Projekt ExtreMat umfasst.

Linsmeier: Das Projekt ist in vier Teilprojekten organisiert, wovon drei auf die Entwicklung von neuen Materialien mit unterschiedlichen Schwerpunkten ausgerichtet sind. Folgende Materialklassen werden behandelt:

Selbst-passivierende Schutzschichten
Ziel ist die Entwicklung von Schutzschichten mit selbst regenerierenden Eigenschaften. Gefordert ist Widerstandsfähigkeit in physikalisch-chemisch aggressiven Umgebungen unter hohen thermischen und mechanischen Belastungen. Typische Leistungsanforderungen sind: 1500 °C unter sauerstoffhaltiger, 2000 °C unter wasserstoffhaltiger Umgebung
Wärmesenken-Materialien
Anforderungen an neue Wärmesenken-Materialien sind eine hohe Wärmeleitfähigkeit bei hohen Temperaturen und gleichzeitiger hoher mechanischer Stabilität. Typische Leistungsanforderungen sind: Wärmeabfuhr von bis zu 15 MW/m2 bei einer Betriebstemperatur von 600 °C. Wärmeleitfähigkeit wesentlich besser als Kupfer.
Strahlungsbeständige Materialien
Schutzschichten und Wärmesenken-Materialien werden ebenfalls für Umgebungen benötigt, in denen hohe Neutronenflüsse vorherrschen. Diese Materialien sollten gleichzeitig eine geringe Aktivierung aufweisen. Typische Leistungsanforderungen sind: Neutronenschädigung bis zu 150 dpa (d. h. im Mittel 150 Umlagerungen eines jeden Gitteratoms) bei Betriebstemperaturen von bis zu 950 °C.
Integration und Komponenten
Ein eigenes Teilprojekt „ExtreMat-Komponenten“ befasst sich mit der Verbindung und Integration neuer Materialien aus den ersten drei Teilprojekten zu funktionalen Komponenten mit neuartigen Eigenschaften. Hierbei kommen Löt-, Press- und Beschichtungsprozesse bzw. Kombinationen dieser Prozesse zum Einsatz.

Am Projekt ExtreMat sind folgende Partner beteiligt:

Universitäten (sechs):
– Ecole Polytechnique Fédérale Lausanne (CH)
– Politechnico di Torino (IT)
– Technische Universität Wien (AT)
– Universidad de Alicante (ES)
– University of Oxford (GB)
– Politechnika Warszawska (PL)
Industrie (14):
– Ansaldo Ricerche S.p.A. (IT)
– Archer Technicoat Ltd. (GB)
– Empresarios Agrupados Internacional S.A. (ES)
– EADS Deutschland GmbH (DE)
– FN S.p.A. NUOVE TECNOLOGIE E SERVIZI AVANZATI (IT)
– AREVA NP SAS (FR)
– AREVA NP GmbH (DE)
– MT-Aerospace AG (DE)
– Materials Engineering Research Laboratory Ltd. (GB)
– National Nuclear Corporation Ltd. (GB)
– PLANSEE SE (AT)
– SIEMENS AG (DE)
– SGL CARBON GmbH (DE)
– Bayern Innovativ – Bayerische Gesellschaft für Innovation und Wissenstransfer mbH (DE)
Forschungszentren (zehn):
– Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (DE)
– Austrian Research Centers GmbH – ARC (AT)
– Commissariat de Ènergie Atomique (FR)
– National Centre for Scientific Research „Demokritos“ (GR)
– Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DE)
– Forschungszentrum Jülich GmbH (DE)
– European Commission, Joint Research Centre (EU/NL)
– Nuclear Research & consultancy Group (NL)
– Paul Scherrer Institut (CH)
– United Kingdom Atomic Energy Authority (GB)
Forschungsinstitute (sieben):
– Centro de Estudios e Investigaciones Técnicas de Gipuzkoa (ES)
– Eidgenössische Material Prüfungsanstalt (CH)
– Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung (DE)
– Ústav materiálov a mechaniky strojov SAV (SK)
– Foundation INASMET (ES)
– Instituto Nacional del Carbón – Consejo Superior de Investigaciones Cientificas (ES)

– Ustav fyziky plazmatu AV CR (CZ)

Media Contact

Katja Havemeister Deutsche Messe

Weitere Informationen:

http://www.hannovermesse.de

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Messenachrichten

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Ideen für die Zukunft

TU Berlin präsentiert sich vom 22. bis 26. April 2024 mit neun Projekten auf der Hannover Messe 2024. Die HANNOVER MESSE gilt als die Weltleitmesse der Industrie. Ihr diesjähriger Schwerpunkt…

Peptide auf interstellarem Eis

Dass einfache Peptide auf kosmischen Staubkörnern entstehen können, wurde vom Forschungsteam um Dr. Serge Krasnokutski vom Astrophysikalischen Labor des Max-Planck-Instituts für Astronomie an der Universität Jena bereits gezeigt. Bisher ging…

Wasserstoff-Produktion in der heimischen Garage

Forschungsteam der Frankfurt UAS entwickelt Prototyp für Privathaushalte: Förderzusage vom Land Hessen für 2. Projektphase. Wasserstoff als Energieträger der Zukunft ist nicht frei verfügbar, sondern muss aufwendig hergestellt werden. Das…

Partner & Förderer