Pharmacoscopy: Mikroskopie der nächsten Generation

Schematische Darstellung des Pharmacoscopy-Prinzips Gregory Vladimer/CeMM

Das Immunsystem besteht aus einer großen Vielfalt an Zelltypen mit unterschiedlichsten Aufgaben. Um die reibungslose Zusammenarbeit dieses hochkomplexen Systems zu gewährleisten, bedarf es einer fein abgestimmten Koordination:

Immunzellen nutzen dafür eine breite Palette an biochemischen Signalwegen, die sie über spezielle lösliche Proteine oder direkte Zellkontakte aktivieren. Solche Signalwege sind auch das Ziel moderner Wirkstoffe, zum Beispiel in der Krebsimmuntherapie. Mit ihnen kann das Immunsystem gezielt gegen bestimmte Strukturen oder Zelltypen gerichtet werden.

Doch die Suche nach Medikamenten, die in der Lage sind, einen solchen Einfluss auf das Immunsystem zu nehmen, gestaltet sich oft als schwierig:

Einerseits sind die Signale – ob nun über lösliche Proteine ausgesendet oder durch direkte Berührungen vermittelt – häufig sehr subtil und in ihrer Feinheit nur schwer zu erfassen.

Andererseits mangelte es bisher an robusten Technologien, mit denen insbesondere die Veränderungen der Zellkontakte zwischen Immunzellen rasch und zuverlässig erkannt und verfolgt werden können.

Hier schafft die Pharmacoscopy Abhilfe: Die Interaktionen von Immunzellen aus dem Blut können mit der von WissenschaftlerInnen am CeMM unter der Leitung von Giulio Superti-Furga entwickelten und in Kollaboration mit der Medizinischen Universität Wien getesteten Methode präzise und zuverlässig vermessen werden.

Das gelingt durch die Kombination eines hochmodernen, automatisierten Hochdurchsatz-Fluoreszenzmikroskops, eines hochauflösenden Bildanalyseverfahrens, das einzelne Zellen erfassen kann sowie eines speziell entwickelten analytischen Algorithmus. Ihre Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Nature Chemical Biology veröffentlicht (DOI:10.1038/nchembio.2360)

Sowohl die Kommunikation über direkte Zellkontakte als auch über lösliche Botenstoffe, die sich in der Regel in einer Veränderung von Zellkontakten widerspiegelt, kann mit der Methode robust quantifiziert werden. Darüber hinaus besticht die Methode durch ihre Geschwindigkeit und Möglichkeit zur vollständigen Automatisierung.

Somit ist es erstmals möglich, große Wirkstoffdatenbanken, wie sie etwa in Stefan Kubicek´s PLACEBO (Platform Austria for Chemical Biology) Laboratorium am CeMM existieren, mit Pharmacoscopy auf ihre immunverändernde Wirkung zu überprüfen. „Wir konnten mit der Methode bereits feststellen, das 10% aller zugelassenen Medikamente auf die ein oder andere Weise einen Einfluss auf das Immunsystem haben – bei vielen war das bisher völlig unbekannt“ so Gregory Vladimer, einer der beiden Erstautoren der Studie.

Aus den untersuchten Wirkstoffen wählten sie Crizotinib aus, ein zugelassenes Medikament zur Behandlung von Lungenkrebs, um die Methode eingehend zu testen. „Bei Crizotinib konnten wir mit Pharmacoscopy verfolgen, wie die Substanz den Krebs für zytotoxische T-Zellen verwundbar macht“, erklärt Berend Snijder, ebenfalls Erstautor der Studie. “Dabei wird MHC, ein für das Immunsystem wichtiger Proteinkomplex, von den Krebszellen produziert, was dazu führt, dass die T-Zellen sie erkennen und abtöten können“.

„Dies ist die weltweit erste Methode, mit der die Modulation des Immunsystems in solch hoher Auflösung und mit einem derartigen Durchsatz analysiert werden kann“ sagt Giulio Superti-Furga, Studienleiter und Wissenschaftlicher Direktor des CeMM.

„Pharmacoscopy kann somit nicht nur für die Entdeckung neuer Wirkstoffe eingesetzt werden, die Methode ist auch in der Grundlagenforschung anwendbar um die Effekte von Signalstoffen auf das Immunsystem zu visualisieren. In Zukunft soll es mithilfe von Pharmacoscopy möglich sein, individuelle Patientenproben zu analysieren und die Wirkung verschiedener Medikamente zu testen – ein Meilenstein in der Entwicklung einer personalisierten Präzisionsmedizin“.

Bilder im Anhang: 1. Gregory Vladimer, Nikolaus Krall, Berend Snijder und Giulio Superti-Furga (v.l.n.r.) neben dem Pharmacoscopy Hochdurchsatzmikroskop (©Wolfgang Däuble/CeMM) 2. Schematische Darstellung des Pharmacoscopy-Prinzips (©Gregory Vladimer/CeMM)

Die Studie „Global survey of the immunomodulatory potential of common drugs“ erschien in der Zeitschrift Nature Chemical Biology am 24. April 2017. DOI:10.1038/nchembio.2360

Autoren: Gregory I. Vladimer, Berend Snijder, Nikolaus Krall, Johannes W. Bigenzahn, Kilian V.M. Huber, Charles-Hugues Lardeau, Kumar Sanjiv, Anna Ringler, Ulrika Warpman Berglund, Monika Sabler, Oscar Lopez de la Fuente, Paul Knöbl, Stefan Kubicek, Thomas Helleday, Ulrich Jäger und Giulio Superti-Furga.

Förderung: Diese Studie wurde vom Europäischem Forschungsrat (ERC), dem Wissenschaftsfonds FWF, dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF), der European Molecular Biology Organization (EMBO), dem Österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (bmwfw), der Nationalstiftung für Forschung, Technologie und Entwicklung, der Swedish Cancer Society, der Kuunt and Alice Wallenberg Foundation und den Marie-Sklodowska Curie Fellowships gefördert.

Giulio Superti-Furga, geboren 1962 in Mailand, studierte Molekulare Biologie an der Universität in Zürich. Nach seiner Promovierung arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg und wurde dort 1995 Teamleiter. 1997 bis 2000 war Superti-Furga als Gastprofessor an der Universität Bologna tätig. Er ist Mitgründer der Biotech-Firmen Cellzome Inc., Haplogen und Allcyte. Seit 2005 ist er der wissenschaftliche Direktor des CeMM Forschungszentrums für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und seit 2015 Professor für Molekulare Systembiologie an der Medizinischen Universität Wien. Des Weiteren ist er Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaft, Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, EMBO, European Academy of Cancer Sciences, Academia Europaea und war bis Ende 2015 Vorsitzender der EMBL Alumni-Association. Zu seinen größten wissenschaftlichen Erfolgen zählen die Aufklärung der grundlegenden regulatorischen Mechanismen der Tyrosinkinasen bei Krebserkrankungen, die Entdeckung der organisatorischen Prinzipien des Proteoms und Lipidoms höherer Organismen, sowie die Charakterisierung der molekularen Bestandteile, welche eine Rolle in der angeborenen Immunität spielen.
2009 wurde er mit dem Großen Ehrenzeichen des Ordens für Verdienste um die Italientische Republik geehrt. 2011 wurde er mit dem Stadt Wien Preis für Naturwissenschaften ausgezeichnet und zum Österreicher des Jahres in der Kategorie Wissenschaft gekürt.
Seit Ende 2014 ist Giulio Superti-Furga Vorsitzender des Steering Boards (Lenkungsausschuss) und Teilnehmer im Personal Genome Project „Genom Austria“. Ziel dieses Bildungs- und Wissenschaftsprojekts ist sich proaktiv mit den verschiedensten Aspekten der Genomsequenzierung auseinanderzusetzen.
Giulio Superti-Furga ist mit einer Wienerin verheiratet und Vater zweier Kinder.
http://cemm.at/research/groups/giulio-superti-furga-group/

Das CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist eine internationale, unabhängige und interdisziplinäre Forschungseinrichtung für molekulare Medizin unter der wissenschaftlichen Leitung von Giulio Superti-Furga. Das CeMM orientiert sich an den medizinischen Erfordernissen und integriert Grundlagenforschung sowie klinische Expertise, um innovative diagnostische und therapeutische Ansätze für eine Präzisionsmedizin zu entwickeln. Die Forschungsschwerpunkte sind Krebs, Entzündungen, Stoffwechsel- und Immunstörungen sowie seltene Erkrankungen. Das Forschungsgebäude des Instituts befindet sich am Campus der Medizinischen Universität und des Allgemeinen Krankenhauses Wien. www.cemm.at

Die Medizinische Universität Wien (MedUni Wien) ist eine der traditionsreichsten medizinischen Ausbildungs- und Forschungsstätten Europas. Mit rund 8.000 Studierenden ist sie heute die größte medizinische Ausbildungsstätte im deutschsprachigen Raum. Mit 5.500 MitarbeiterInnen, 27 Universitätskliniken und etlichen medizintheoretischen Zentren und hochspezialisierten Laboratorien zählt sie zu den bedeutendsten Forschungsinstitutionen Europas im biomedizinischen Bereich. Der klinische und forscherische Schwerpunkt der Medizinischen Universität liegt auf den Themen Immunologie, Neurobiologie, Imaging, Onkologie und Herz-Kreislauferkrankungen. www.meduniwien.ac.at

Für Rückfragen wenden Sie sich bitte an:

Mag. Wolfgang Däuble
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CeMM
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Lazarettgasse 14, AKH BT 25.3
1090 Vienna, Austria
Phone +43-1/40160-70 057
Fax +43-1/40160-970 000
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