Akute Mischintoxikation mit unterschiedlichen Medikamenten

Berliner Betrieb für Zentrale Gesundheitliche Aufgaben (BBGes), Klinische Toxikologie und Pharmakologie, Oranienburger Str. 285, 13437 Berlin.

Technische Universität Berlin, Institut für Lebensmitteltechnologie und Lebensmittelchemie, Gustav-Meyer-Allee 25, 13355 Berlin.

Apotheke Oranienburger Tor, 10117 Berlin

Der Nachweis akuter Intoxikationen, eines Medikamentenmissbrauchs oder der Konsum illegaler Drogen im Rahmen des systematischen-toxikologischen Screenings erfordern den Nachweis eines möglichst breiten Spektrums an Substanzen. Der Arbeitsaufwand bei der Probenaufarbeitung sollte gering sein, was im Wesentlichen durch einen hohen Grad an Automatisierung erreicht werden kann. Das Institut für Toxikologie des Berliner Betriebes für Zentrale Gesundheitliche Aufgaben (BBGes) setzt ein TOX.I.S. (TOXikologisches IdentifizierungsSystem, Fa. Shimadzu) im Rahmen der systematisch-toxikologischen Analyse von basischen Substanzen in Urin, wie z.B. Morphin, Methadon etc. bereits erfolgreich ein [1]. In diesem Artikel wird die Erweiterung des Systems durch eine neuartige Methode zur automatischen Extraktion von schwach sauren, neutralen und schwach basischen Substanzen, wie z.B. Benzodiazepinen, aus Urin vorgestellt.

Die ungerichtete und zeitkritische Suchanalyse nach vergiftungsrelevanten Wirkstoffen in biologischen Proben ist eine der zentralen Aufgaben in klinisch toxikologischen und forensischen Laboratorien. Neben der Identifikation von basischen Arznei- und Mißbrauchssubstanzen, spielt die Analyse schwach saurer, neutraler und schwach basischer Substanzen, zu denen z.B. die Gruppe der Benzodiazepine gehört, eine große Rolle.

Benzodiazepine sind häufig verschriebene Arzneistoffe mit einem weiten Anwendungsspektrum [2]. Sie werden u.a. aufgrund ihrer angstlösenden, muskelrelaxierenden, beruhigenden und krampflösenden Wirkung eingesetzt [3]. Neben dem medizinischen Einsatz der Benzodiazepine stellt der Missbrauch dieser Substanzen ein bekanntes Problem dar [4]. Die Benzodiazepine werden in drei Strukturgruppen unterteilt: die 1,4-Benzodiazepine (z.B. Clonazepam, Diazepam, Flurazepam, Lorazepam), die Diazolbenzodiazepine (z.B. Midazolam) und die Triazolbenzodiazepine (z.B. Alprazolam, Triazolam). Insgesamt existieren mehr als 30 verschiedene benzodiazepin-haltige Arzneimittel, wie z.B. Diazepam (Valium®), Flunitrazepam (Rohypnol®) und Midazolam (Dormicum®). Die therapeutischen Plasmakonzentrationen reichen von 0,005…0,015 mg/l für Flunitrazepam oder wie beim Chlordiazepoxid von 0,4…4,0 mg/l [5]. Verschiedene Methoden, wie z.B. GC-MS [6], HPLC [7], LC-MS-MS [8] oder LC-(TOF)-MS [9] zur Bestimmung von Benzodiazepinen aus Urin sind in der Literatur beschrieben. Nur wenige Verfahren, wie z.B. das von Tatsuno et al. [10], verwenden eine automatische Festphasenextraktion zur Probenvorbereitung.

Neben der automatischen Festphasenextraktion bietet das TOX.I.S. die Möglichkeit, eine Spektrenbibliothek mit mehr als 3000 Einträgen zu verwenden [11]. Diese Bibliothek bietet die Möglichkeit, Substanzen und Metabolite anhand ihrer Spektren im Vergleich zur Muttersubstanz identifizieren und mit einer eigenen Methode verifizieren zu können.

Materialien und Methoden
Zur Steigerung der Nachweisempfindlichkeit der Analyse von Benzodiazepinen ist eine Hydrolyse erforderlich. Zur Hydrolyse von Glucuronid-Konjugaten werden ß-Glucuronidase, Urin und Wasser in ein 1,5 ml-Plastikeinweggefäß pipettiert und für 30 min bei 45 °C im Thermoschütttler hydrolysiert. Nach Zugabe einer Pufferlösung, die den internen Standard (IS, c = 2 mg/l) enthält, wird die Mischung kurz maschinell geschüttelt und anschließend für 30 s bei > 13,000 x g zentrifugiert. Das geschlossene Plastikgefäß wird in den Autosampler des TOX.I.S. gestellt. Das TOX.I.S. besteht aus einem binären Pumpensystem (LC-20AT und LC-20AB) mit jeweils einem Lösungsmitteldegasser (DGU-20A5), einem integrierten System Controller (CBM-20AL), einem Autosampler (SIL-20AC), einem Säulenofen (CTO-20 AC) und einem UV-Detektor (SPD-M20A). Zur Steuerung der Online-Extraktion und der Analytik sind mehrere Schaltventile in die Anlage integriert: ein FCV-20AH2, zwei FCV-14AH und zwei FCV-12AH (alles Shimadzu, Bild 1).
Für die Online-Extraktion wird eine Extraktionssäule vom Typ Strata-X (Phenomenex) verwendet. Die Probe wird mittels eines Beladungspuffers (pH = 9,0) auf die Extraktionssäule aufgebracht. Zur chromatographischen Trennung der Substanzen dient eine analytische Säule vom Typ C18 Gemini-NX, (150 x 4,6 mm, 3 µm), der eine Vorsäule gleichen Typs (C18, 4 x 3,0 mm, 3 µm, beides Phenomenex) vorgeschaltet ist. Die mobile Phase setzt sich aus Acetonitril/Wasser (90/10, v/v) und einem Kaliumdihydrogenphosphatpuffer (pH 2,3) zusammen. Die Ofentemperatur beträgt 40 °C. Die Detektion erfolgt mittels Diodenarray-Detektor im Wellenlängenbereich von 195…380 nm. Das Chromatogramm wird bei einer Wellenlänge von 230 nm dargestellt. Die Gesamtzeit der Analyse inkl. Online-Extraktion beträgt 50 min. Die Identifikation der Substanzen erfolgt über die Übereinstimmung der relativen Retentionszeiten (RRT +/- 5 %) sowie über den Vergleich des Absorptionsspektrums (Similarität: >0,999; Steuerungs- und Auswertesoftware: LC Solution, Fa. Shimadzu).
Zur Funktionsprüfung des Systems wird ein Check Mix injiziert. Mit diesem Check Mix werden die Retentionszeit/relative Retentionszeit, die Peakflächen und die Übereinstimmung der Spektren (Similarität) mit den Bibliothekseinträgen geprüft. Die Systemkontrolle ergibt das in Bild 2 gezeigte, typische Chromatogramm.
Um die Leistungsfähigkeit des Systems zu prüfen, wurde die Methode an zahlreichen Proben im Rahmen der klinisch-toxikologischen Analyse getestet. Anhand eines (hydrolysierten) drogenfreien Urins (Leerurin) sollte zunächst die Reinheit des Chromatogramms nach erfolgter Online-Extraktion demonstriert werden. Bild 3 zeigt einen drogenfreien Urin (Leerurin) nach Hydrolyse und automatischer Online-Extraktion.
Fallbeispiel
Eine 44-jährige Frau wurde leblos und stark unterkühlt vorgefunden. Die Frau wurde reanimiert, intubiert und beatmet. Da der Verdacht auf einen Suizidversuch mit Medikamenten bestand, wurde eine Urinprobe an das Institut für Toxikologie zur toxikologischen Untersuchung geschickt.
Das immunologische Screening der Urinprobe ergab einen positiven Befund auf Benzodiazepine (CEDIA DAU®): cut-off 0,200 mg/l, Referenzsubstanz: Nitrazepam). Für eine chromatographische Bestätigungsanalyse wurde der Urin zunächst enzymatisch hydrolysiert und nach Zugabe des internen Standards mittels TOX.I.S. analysiert.
In dem hydrolysierten Urin wurde Lorazepam (Peak 10, Bild 4) eindeutig nachgewiesen. Lorazepam, ein 3-Hydroxybenzodiazepin, wird fast ausschließlich als Lorazepam-Glucuronid ausgeschieden [5]. Daher ist es zwingend notwendig, diese Verbindung durch z.B. enzymatische Spaltung in das weniger hydrophile Lorazepam zu überführen und damit der Online-Extraktion besser zugänglich zu machen.
Lorazepam wird u.a. unter dem Handelsnamen Tavor® (Hersteller: Wyeth) sowie von verschiedenen Generika-Herstellern vertrieben. Im Jahr 2005 wurden in Deutschland über 1 Millionen Packungen Tavor verordnet und stand damit auf Platz 4 der meistverordneten Psychopharmaka [12]. Bei einer Überdosierung kann es u.a. zu Benommenheit, Somnolenz, Ataxie und Blutdruckabfall kommen; bei schweren Vergiftungen treten Bewusstlosigkeit Atem- und Kreislaufdepressionen hinzu.
Neben Lorazepam wurden noch weitere Substanzen wie Amitriptylinoxid, Amitriptylin, Nortriptylin und noch weitere Amitriptylin-Metabolite, sowie Venlafaxin, Norvenlafaxin und andere Venlafaxin-Metabolite, sowie das atypische Neuroleptikum Sulpirid im Urin gefunden. Einige Metabolite konnten durch Vergleich der Absorptionsspektren mit ihrer jeweiligen Muttersubstanz identifiziert werden. Die Metabolite wurden dann in der methodenspezifischen Spektrenbibliothek mit der relativen Retentionszeit und dem Absorptionsspektrum gespeichert.
Als Beispiel sind in den Bild 5 und 6 die UV-Spektren von Lorazepam und Amitriptylin (schwarze Linie) mit den Vergleichsspektren aus der Bibliothek (rote Linie) dargestellt.Amitriptylinoxid und Amitriptylin sind trizyklische Antidepressiva (TZA) und gehören in die Gruppe der dämpfenden und angstlösenden Antidepressiva. TZA weisen eine erhebliche akute Toxizität auf – u.a. aufgrund ihrer anticholinergen Wirkung. Eine Vergiftung äußert sich u.a. durch Beeinträchtigung des zentralen Nervensystems (Verwirrung, Erregungszustände, Krampfanfälle, Bewusstseinstrübung bis zum Koma, Atemdepressionen bis Atemstillstand), sowie Herz-Kreislauf-Symptome (Blutdruckabfall, Herzrhythmusstörungen).
Venlafaxin ist ein Arzneistoff, der in der Behandlung von Depressionen und Angstzuständen verwendet wird. Chemisch gesehen handelt es sich um ein Phenylethylamin-Derivat, das als Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) seine Wirkung im Zentralnervensystem entfaltet. Symptome einer Intoxikation äußern sich durch einen beschleunigten Pulsschlag, Änderungen des Bewusstseinsgrades, Krämpfe und Erbrechen, aber auch Blutdruckabfall und Schwindel.Sulpirid ist ein Benzamidderivat und gehört zu den sogenannten atypischen Antidepressiva. Es besitzt neuroleptische sowie antidepressive Eigenschaften.
Bei der Beurteilung der Schwere und des Risikos einer Intoxikation sollte das Vorliegen einer Mehrfachintoxikation durch Einnahme mehrerer Arzneimittel bedacht werden. Lorazepam, in Kombination mit Amitriptylin, Venlafaxin und Sulpirid eingenommen, führt zu einer merklichen Erhöhung der Toxizität der Einzelsubstanzen [13]. Somit ist für die klinisch-toxikologische Beurteilung des vorliegenden Vergiftungsfalls das unspezifische immunologische Ergebnis „Benzodiazepine-positiv“ allein nicht ausreichend.
Zusammenfassung
Eine Frau wurde leblos und stark unterkühlt vorgefunden. Das immunologische Screening der Urinprobe ergab einen positiven Befund auf Benzodiazepine. Die chromatographische Bestätigungsanalyse mittels TOX.I.S. ergab den Nachweis von Lorazepam, ein Benzodiazepin und weiteren, toxikologisch relevanten Substanzen (Amitriptylin, Venlafaxin und Sulpirid). Zur Substanzidentifizierung wurde eine allgemeine Spektrenbibliothek mit über 3000 Einträgen sowie eine eigene, methodenspezifische Bibliothek mit derzeit mehr als 300 Einträgen (Substanzname, RT, RRT und Substanzspektrum) verwendet.
Anhand dieses authentischen Vergiftungsfalls konnte die neue Methode zur Bestimmung von schwach basischen, sauren und neutralen Arzneimitteln und Fremdstoffen aus Urin erfolgreich angewendet werden. Die neue Methode lässt sich zusätzlich zur basischen Analyse einsetzen. Die Umschaltung zwischen den beiden Methoden ist voll automatisiert, so dass Proben nacheinander, z.B. über Nacht, mit beiden Methoden untersucht werden können. Das TOX.I.S. ist somit ein praxiserprobtes System, welches für den routinemäßigen Einsatz im klinisch-toxikologischen Labor geeignet ist.
Literatur
Schönberg, L., Grobosch, T., Lampe, D. and Kloft, C.; Toxicological Screening in Urine: Comparison of Two Automated HPLC Screening Systems, Toxicological Identification System (TOX.I.S) versus REMEDITM-HS, J. Anal. Toxicol. 31:321-327 (2007).Guan, F., Seno, H., Ishii, A., Watanabe, K., Kumaszawa, T., Hattori, H., Suzuki, O.; Solid-phase microextraction and GC-ECD of benzophenones for detection of benzodiazepines in urine, J. Anal. Toxicol., 23: 54-61, 1999.Mullett, M. W., Pawliszyn, J.; Direct LC analysis of five benzodiazepines in human urine and plasma using an ADS restricted access extraction column, J. Pharm. Biomed. Anal. 26: 899-908, 2001. Drummer, O. H., Methods for the measurement of benzodiazepines in biological samples, J. Chromatogr. B Biomed. Sci. Appl. 713: 201-225, 1998.Külpmann, W. R. (ed.): Clinical Toxicological Analysis, Procedures, Results, Interpretation, 1. Edition – March 2009, 926 Pages, 2 Volumes, Hardcover, Wiley-VCH, Weinheim.Klette K. L., Wiegand R. F., Horn C. K., Stout P. R., Magluilo J. Jr.; Urine benzodiazepine screening using Roche Online KIMS immunoassay with beta-glucuronidase hydrolysis and confirmation by gas chromatography – mass spectrometry. J. Anal. Toxicol. 29 (3): 193-200 (2005).Samanidou V. F., Pechlivanidou A. P., Papadoyannis I. N.; Development of a validated HPLC method for the determination of four 1,4-benzodiazepines in human biological fluids. J Sep Sci. 2007 Mar; 30(5):679-87.Marin S. J., Coles R., Merrell M., McMillin G. A.; Quantitation of benzodiazepines in urine, serum, plasma, and meconium by LC-MS-MS. J. Anal. Toxicol. 32(7):491-8 (2008).ElSohly M. A., Gul W., Murphy T. P., Avula B., Khan I. A.; LC-(TOF) MS analysis of benzodiazepines in urine from alleged victims of drug-facilitated sexual assault. J. Anal. Toxicol. 31(8):505-14 (2007).Miki A., Tatsuno M., Katagi M., Nishikawa M., Tsuchihashi H. Simultaneous determination of eleven benzodiazepine hypnotics and eleven relevant metabolites in urine by column-switching liquid chromatography-mass spectrometry. J. Anal. Toxicol. 26(2):87-93 (2002).Pragst, F., Herzler M., Herre, S., Erxleben, B.-T., Rothe, M.; UV Spectra of Toxic Compounds, Toxicological Chemistry.[12] http://www.epsy.de/psychiatrie/psychopharmaka.htm. Zugriffsdatum 15.09.09.Ramrakha P., Moore K. (2004): „Chapter 14: Drug overdoses“. Oxford Handbook of Acute Medicine (2nd ed.). Oxford University Press. p. 791-838,(798). ISBN 0198520727.

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