Tödliche Nervenkrankheit ALS: Stoffwechselfaktor PGC-1α beeinflusst Verlauf bei Männern

Wieso lebt der Physikprofessor Stephen Hawking seit mehreren Jahrzehnten mit der neurodegenerativen Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), während andere Betroffene nach wenigen Monaten sterben?

Anhand von zwei ALS-Patientenkollektiven und Untersuchungen am Mausmodell haben Ulmer Forscher um Professor Albert Ludolph und Dr. Patrick Weydt in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus Berlin, Salzburg, Umeå und Strasbourg einen möglichen Erklärungsansatz gefunden: Bei der Frage wer wann erkrankt, scheint das Protein PGC-1α, das den Zellstoffwechsel reguliert, eine Rolle zu spielen. Offenbar beeinflussen Varianten des PGC-1α-Gens, so genannte SNPs, Krankheitsbeginn und -verlauf der ALS. Diesen Effekt konnten die Wissenschaftler überraschenderweise nur bei männlichen Patienten nachweisen.

Der Fachartikel der Mediziner und Naturwissenschaftler ist im Journal „Human Molecular Genetics“ erschienen. Die Publikation ist ein erstes Produkt des ALS-Forschungszentrums, das im Januar gemeinsam mit einem Virtuellen Helmholtz-Institut (Schwerpunkt ALS) an der Universität Ulm eröffnet wurde.

Tatsächlich trifft die heimtückische Krankheit ALS, die eine Degeneration der Motoneurone und somit Lähmungen und Muskelschwund auslöst, Männer etwas häufiger als Frauen. Jährlich erkranken zwei bis drei von 100 000 Personen — oft im sechsten Lebensjahrzehnt. Die meisten Patienten sterben etwa drei bis fünf Jahre nach Krankheitsbeginn. Man unterscheidet eine „familiäre“ Form mit erblicher Komponente und die sporadische ALS.

Bei den neurodegenerativen Erkrankungen Morbus Huntington („Veitstanz“) und Parkinson scheinen bestimmte Varianten des Proteins PGC-1α den Krankheitsausbruch zu beeinflussen. Um die Rolle der fraglichen SNPs bei der sporadischen Amyotrophen Lateralsklerose nachzuvollziehen, haben die Autoren ihr Vorkommen bei 590 deutschen ALS-Patienten (237 Frauen, 353 Männer) überprüft. Viele Proben stammten aus dem ALS-Register Schwaben. Die Ergebnisse der genetischen Untersuchung wurden dann mit dem Alter bei Krankheitsausbruch und — wenn vorhanden — dem Todeszeitpunkt korreliert. Mit interessanten Ergebnissen: Patienten starben durchschnittlich acht Jahre früher, wenn bei ihnen eine bestimmte PGC-1α-Variante (rs11737023) homozygot vorlag.

Außerdem gab es Hinweise auf einen früheren Krankheitsbeginn bei den Betroffenen. „Diesen Effekt haben wir lediglich bei Männern gefunden. Bei Frauen hatte die Genvariante keine Auswirkungen“, sagt Patrick Weydt, Arzt und Forscher an der Ulmer Universitätsklinik für Neurologie. In einer schwedischen ALS-Patientenkohorte (198 Frauen, 268 Männer) konnten die Autoren den Effekt des fraglichen SNPs bestätigen: Männer, aber nicht Frauen mit der Variante starben früher. Ihre Krankheitsdauer war um die Hälfte verkürzt.

Aber welche Mechanismen liegen dem Einfluss von PGC-1α zugrunde? Dieser Frage gingen die Forscher anhand eines bewährten Mausmodells der familiären ALS nach. Lag PGC-1α bei den Nagern nicht in voller Länge vor, konnten sie ebenfalls einen krankheitsbeschleunigenden Effekt nachweisen — allerdings wieder nur bei männlichen Tieren. Dieses geschlechtsspezifische Phänomen hängt womöglich mit dem Wachstumsfaktor VEGF-A zusammen. Außerdem interagiert PGC-1α mit androgen- und östrogenähnlichen Rezeptoren. Um molekulare Grundlagen zu verstehen, sind aber weitere Studien nötig. „Unsere Untersuchungen zeigen erstmals, dass PGC-1α auch Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf von ALS hat. Bislang wurde eine modulierende Wirkung lediglich für Morbus Huntington und Parkinson vermutet“, sagen die Erstautorinnen Dr. Judith Eschbach, Birgit Schwalenstöcker und Dr. Selma Soyal. Bemerkenswert seien zudem die auf Männer begrenzten Auswirkungen der PGC-1α-Variante.
Insgesamt könnten die gewonnenen Erkenntnisse neue Therapieoptionen bei ALS eröffnen. „Bisher werden betroffene Männer und Frauen gleich behandelt. Vielleicht sollte über eine geschlechtsspezifische Therapie nachgedacht werden“, so Patrick Weydt. Ein weiterer Ansatzpunkt für künftige Studien: Der PGC-1α-Effekt war bei den untersuchten Patienten stärker als im Mausmodell der familiären ALS. Womöglich ist der Verlauf der sporadischen Amyotrophen Lateralsklerose also einfacher zu beeinflussen.

Im ALS-Forschungszentrum an der Universität Ulm erforschen Wissenschaftler unter der Leitung von Professor Albert Ludolph die Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose. In enger Zusammenarbeit sollen Mitglieder des Virtuellen Instituts der Helmholtz-Gemeinschaft „RNA Dysmetabolismus bei Amyotropher Lateralsklerose und Frontotemporaler Demenz“ neue Erkenntnisse in die Praxis übertragen. Zum Institut gehören die Universitäten Ulm, Umeå (Schweden), Strasbourg (Frankreich) sowie das Deutsche Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). Die Ulmer Universitätsklinik für Neurologie gilt als führend in der ALS-Forschung und verfügt mit dem ALS-Register Schwaben über ein großes Patientenkollektiv. Bei der aktuellen Studie wurden die Forscher zusätzlich von der Thierry Latran-Stiftung, gegründet von einem ALS-Patienten, unterstützt.

Näheres: Dr. Patrick Weydt, patrick.weydt@uni-ulm.de, 0731/1771201

Judith Eschbach, Birgit Schwalenstöcker, Selma Soyal, Hanna Bayer, Diana Wiesner, Chizuru Akimoto, Anne-Charloth Nilsson, Anna Birve, Thomas Meyer, Luc Dupuis, Karin Danzer, Peter M Andersen, Anke Witting, Albert C Ludolph, Wolfgang Patsch, Patrick Weydt. PGC-1α is a male-specific disease modifier of human and experimental amyotrophic lateral sclerosis. Human Molecular Genetics. DOI:10.1093/hmg/ddt202

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