Synthetische Cannabis-Stoffe sind wirksam in der Behandlung der überaktiven Blase

Sie äußert sich in ständigem Harndrang und übermäßig häufigem Wasserlassen, zum Teil auch in Verbindung mit Inkontinenzepisoden. Die Häufigkeit der OAB beträgt bei Männern 11% und bei Frauen 13% und ist mit einer beträchtlichen Einschränkung der Lebensqualität, bis hin zur Depression, sowie hohen Kosten verbunden.

Allein in Deutschland werden die jährlichen Ausgaben für die OAB auf knapp 4 Milliarden Euro geschätzt. Symptomatisch werden antimuskarinerg wirksame Medikamente eingesetzt, die die glatte Muskulatur der Harnblase über so genannte Muskarin-Rezeptoren entspannen. Allerdings ist die Wirksamkeit dieser Substanzen gerade über einen längeren Zeitraum begrenzt, und mit gravierenden Nebenwirkungen wie z.B. Mundtrockenheit und zentralnervösen Störungen wie Verwirrungszuständen vergesellschaftet. Daher wird seit Jahren nach alternativen Substanzen in der medikamentösen Therapie der OAB gesucht.

Patienten mit multipler Sklerose (MS) zeigen häufig Symptome der OAB als Ausdruck einer neurogenen Blasenentleerungsstörung. Kürzlich wurde gezeigt, dass die Einnahme von Cannabis-Extrakten zu einer signifikanten Besserung der Inkontinenzepisoden und des häufigen Wasserlassens in dieser Patientengruppe führt. Der zugrundeliegende Mechanismus war jedoch nicht bekannt. Nun haben Forscher der Urologischen Klinik der LMU München in Kooperation mit einer schwedisch-amerikanischen Arbeitsgruppe erstmalig einen neuartigen synthetischen Cannabis-Stoff („Cannabinor“) bei der Behandlung der OAB getestet. „Cannabinor“ wirkt selektiv auf eine bestimmte Untergruppe von Cannabinoid-Rezeptoren (CB2-Rezeptoren), die sich auf Nervenfasern in der Schleimhaut der Harnblase befinden. Diese Rezeptoren, die bei Ratte, Affe und Mensch gefunden wurden, vermitteln sowohl Informationen von der Harnblase zum Gehirn („afferente Nerven“) sowie vom Gehirn zur Harnblase („efferente Nerven“) (1). So zeigte sich im Tiermodell der Ratte – analog zu den Ergebnissen bei MS-Patienten – eine geringere Frequenz des Wasserlassens, sowie eine Erhöhung des Blasenvolumens nach Behandlung mit Cannabinor (2). Cannabinor wurde auch unter pathologischen Bedingungen getestet. Dabei wurde ein etabliertes Tiermodell der Ratte verwendet, bei dem eine überaktive Blase durch partielle Ligatur der Harnröhre induziert wurde. So lässt sich auch die Situation des alternden Mannes bei gutartiger Prostata-Vergrösserung simulieren. Hierbei zeigte sich nach chronischer Cannabinor-Gabe im Vergleich zur Kontrollgruppe (Plazebo) eine Verbesserung der Harnspeicherstörungen und eine Reduktion der unwillkürlichen Harnblasenkontraktionen (3). Die vorgelegten vielversprechenden Ergebnisse müssen nun an weiteren Tiermodellen überprüft werden, bevor sie beim Menschen langfristig zum Einsatz kommen. Somit könnte die Verwendung von synthetischen Cannabis-Stoffen eine neuartige Therapieform in der Behandlung der überaktiven Blase beim Menschen darstellen.

Literatur:
(1) Gratzke C, Streng T, Park A, Christ G, Stief CG, Hedlund P, Andersson KE. Distribution and function of cannabinoid receptors 1 and 2 in the rat, monkey and human bladder. Journal of Urology Apr 2009;181(4):1939-1948.
(2) Gratzke, C., Streng, T., Stief, C.G., Downs, T.R., Alroy, I., Limberg, B.J., Rosenbaum, J.S., Hedlund, P & Andersson, K.-E.. Effects of Cannabinor, a novel selective Cannabinoid-2-receptor agonist, on bladder function in conscious rats. European Urology March 10 2010 (epub ahead of print).

(3) Gratzke, C., Streng, T., Stief, C.G., Alroy, I., Downs, T.R., Limberg, B.J., Rosenbaum, J.S., Andersson, K.-E., Hedlund, P. Cannabinor, a Novel Peripherally Acting Cannabinoid-2-Receptor Agonist Reduces Nonvoiding-Contractions in Rats with Partial Urethral Obstruction. Journal of Urology Suppl. 2009 181, 567.

Ansprechpartner:
Priv.-Doz. Dr. med. Christian Gratzke
Oberarzt der Urologischen Klinik und Poliklinik
Klinikum der Universität München (LMU) – Campus Großhadern
Marchioninistr. 15, 81377 München
Tel: +49 89 7095-0 oder -6716
E-mail: christian.gratzke@med.uni-muenchen.de
http://uro.klinikum.uni-muenchen.de
Klinikum der Universität München
Im Klinikum der Universität München (LMU) sind im Jahr 2008 an den Standorten Großhadern und Innenstadt etwa 500.000 Patienten ambulant, teilstationär und stationär behandelt worden. Die 45 Fachkliniken, Institute und Abteilungen verfügen über mehr als 2.300 Betten. Von insgesamt 9.800 Beschäftigten sind rund 1.700 Mediziner. Forschung und Lehre ermöglichen eine Patientenversorgung auf höchstem medizinischem Niveau. Das Klinikum der Universität München hat im Jahr 2008 etwa 64 Millionen Euro an Drittmitteln eingeworben und ist seit Juni 2006 Anstalt des öffentlichen Rechts.

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Philipp Kressirer idw

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