Schluss mit der Reisekrankheit in Neigezügen

Neigezüge: Durch Einwärtskippen um die eigene Längsachse gleichen die Züge die geschwindigkeitsabhängige Seitwärtsbeschleunigung (Zentrifugalkraft) der Wagen teilweise aus. Dank dieser Kompensation der Kräfte können sie schneller fahren als andere Bahnen. (Bild: SBB)<br>

Neigezüge können schneller fahren als normale Züge, weil ihre seitliche Neigung einen Teil der Kräfte kompensiert, welche in den Kurven auf die Wagen wirken: Durch ein Einwärtskippen um die eigene Längsachse gleichen die Züge die geschwindigkeitsabhängige Seitwärtsbeschleunigung (Zentrifugalkraft) der Wagen teilweise aus.

Dank dieser Kompensation bleibt in den Kurven unter anderem auch der Kaffee im Becher, und Personen, die sich im Gang bewegen, werden nicht auf die Seite geworfen. Die Kehrseite der schnellen Neigezüge: Viele Passagiere fühlen sich in ihnen unwohl, sie werden reisekrank. Ihr autonomes Nervensystem reagiert mit Übelkeit, Erbrechen, Schwitzen, Herzklopfen und anderen Symptomen. Die genaue Ursache der Reisekrankheit in Neigezügen war bisher unbekannt.

Der Neurologe Dominik Straumann von der der Universität Zürich hat nun zusammen mit Kollegen vom Mount Sinai Hospital in New York sowie mit Ingenieuren von den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) und von Alstom den Effekt der Grösse des Neigungswinkels auf den Komfort der Passagiere erforscht. Den Rahmen bildeten Vorabklärungen für die Beschaffung von Doppelstock-Zügen durch die SBB. Auf Testfahrten zwischen Winterthur und Gossau hat das Forscherteam Messungen und Befragungen durchgeführt. Ihre Erkenntnisse sind unmittelbar relevant für die Praxis und werden jetzt in der Wissenschaftszeitschrift «The FASEB Journal» publiziert.

Die Grösse des Neigungswinkels ist irrelevant – bei richtigem Timing

Ausschlaggebend für das Auftreten von Reisekrankheiten ist, so das Ergebnis der Testreihe, ob die Neigung der Wagen synchron mit der kurvenbedingten Seitwärtsbeschleunigung erfolgt oder nicht: Wird die Beschleunigung gleichzeitig durch die Neigung kompensiert, fühlen sich die Passagiere wohl, erfolgt die Kompensation aber mit einer kurzen Verzögerung, können sie reisekrank werden.

Ob die Kompensation nun synchron oder zeitlich verzögert erfolgt, ist abhängig vom eingesetzten Kontrollsystem, welches wiederum den sogenannten Neigungsmodus definiert. Unterschieden werden der konventionelle und der prädikative Neigemodus: Bei Fahrten im konventionellen Neigemodus werden Messdaten auf Höhe der Lokomotive verwendet, um die Neigungswinkel der folgenden Wagen zu berechnen. Das führt zu einer etwas verspäteten Neigung vor allem der vorderen Wagen. Bei Fahrten im prädikativen Modus hingegen verfügt der Bordcomputer über das Profil der gesamten Zugsstrecke und kann die Wagen exakt zeitgleich mit der kurvenbedingten Seitwärtsbeschleunigung neigen.

Die Auswirkungen des Neigungsmodus auf die Befindlichkeit der Fahrgäste zeigt sich unmittelbar: Bei Fahrten mit konventionellem Modus nahm der Grad der Reisekrankheit mit grösser werdendem Neigungswinkel zu. Anders bei Fahrten im prädikativen Modus: Bei den Passagieren traten keine Änderung des Befindens auf, obwohl der Zug deutlich schneller fuhr. Bei Fahrten mit konventionellem Modus wurden kleinere Neigungswinkel zwar relativ gut ertragen, allerdings konnte der Zug im Vergleich mit Fahrten ohne Neigung die Geschwindigkeit weniger stark erhöhen.

«Ursache und Ausmass der Reisekrankheiten in Neigezügen ist damit nicht primär in der Grösse des Neigewinkels zu suchen», bilanziert Dominik Straumann, sondern «in der zeitlichen Verzögerung der Neigung, spürbar wird die verzögerte Neigung der Wagen beim Kurveneingang und die verzögerte Rückneigung beim Kurvenausgang.»

Besonders erfreulich an diesen Ergebnissen ist, dass das technische Gegenmittel gegen die Reisekrankheit in Neigezügen bereits existiert. Die Kontrollsysteme, welche prädikative Fahrten ermöglichen, lassen sich zudem relativ einfach auch in bestehenden Zügen implementieren.

Zu den Testfahrten:
An den Testfahrten hatten während fünf Tagen insgesamt 200 Passagiere teilgenommen. Die Hälfte der Passagiere hatte angegeben, dass sie bei Fahrten in Neigezügen reisekrank werden. Einige der Passagiere trugen während den Fahrten an einem Kopfband einen dreidimensionalen Beschleunigungssensor (Akzelerometer), mit dem die Beschleunigungskräfte in der Nähe des Innenohrs ermittelt wurden. Im Abstand von zehn Minuten gaben die Passagiere zudem Auskunft zu ihrer Befindlichkeit.
Literatur:
Bernard Cohen, Mingjia Dai, Dmitri Ogorodnikov, Jean Laurens, Theodore Raphan, Philippe Müller, Alexiou Athanasios, Jürgen Edmaier, Thomas Grossenbacher, Klaus Stadtmüller, Ueli Brugger, Gerald Hauser, and Dominik Straumann: Motion sickness on tilting trains, in: The FASEB Journal, published online July 25, 2011, doi: 10.1096/fj.11-184887
Kontakte:
Prof. Dominik Straumann
Klinik für Neurologie
Universitätsspital Zürich
Tel. +41 (0)44 255 55 64
E-Mail: dstraumann@access.uzh.ch

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Beat Müller idw

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