Schlaganfall: im Zweifelsfall für die Lyse-Therapie entscheiden

Deutlich mehr Schlaganfall-Patienten als bisher sollten eine Lyse-Therapie erhalten. Das ist die Kernaussage der weltweit größten Thrombolyse-Studie IST-3 und einer Meta-Analyse mehrerer wissenschaftlicher Arbeiten, die vor Kurzem im renommierten Fachblatt The Lancet veröffentlicht wurden.

„Diese Daten untermauern unsere Empfehlung, die Lyse noch mehr in der Routine-Therapie zu verankern“, kommentiert Professor Martin Grond, Vorstandsmitglied sowohl der DGN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie) als auch der DSG (Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft).„Bisher sucht man eher nach Gründen, die Lyse nicht durchzuführen – wir sollten aber eher die Lyse als Standard betrachten, statt die indizierten Patienten zu selektieren.“

Auch Patienten mit schweren Schlaganfällen und Patienten über 80 Jahre profitieren

Mit der Lyse lösen Neurologen in den Stroke-Units nach einem Schlaganfall einen Thrombus im Gehirn auf, der zum Hirninfarkt geführt hat. Die Entscheidung für eine Lyse-Therapie erfordert eine ausführliche Untersuchung des Patienten, damit keine unerwünschten Nebenwirkungen wie verstärkte Blutungen auftreten.

Die Studien belegen nun, dass eine Lyse-Therapie mit Alteplase auch dann mit ausreichender Sicherheit anwendbar ist, wenn die Entscheidung für oder gegen diese Therapie durch die bisherige Zulassung nicht abgedeckt ist. Bei einem Teil der Patienten, die ausgeschlossen sind, werden ähnliche Erfolgsraten wie bei Standardindikationen erreicht.

Dies gilt zum Beispiel für Patienten mit schweren Schlaganfällen, bei denen die Zulassung des Medikaments bisher noch starke Zurückhaltung auferlegt, oder bei Patienten, die aufgrund ihres Alters über 80 Jahre nicht entsprechend behandelt werden dürfen. Professor Didier Leys, Direktor der Neurologischen Klinik der Universität Lille, Frankreich, bestätigt in seinem Kommentar in The Lancet: „Die IST-3-Studie legt nahe, dass viele Patienten aus Subgruppen, die sonst von der Lyse-Therapie ausgeschlossen werden, von nun an Alteplase bekommen können.“

Erleichterung bei der Off-Label-Indikation – aber keine Änderung der Standards

Schlaganfall-Experte Professor Werner Hacke, Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg, weist darauf hin, dass die Studie keinen signifikanten Unterschied zwischen den Behandlungsgruppen gezeigt habe. Alle positiven Ergebnisse stammen aus sekundären oder post-hoc-Analysen.

Trotzdem seien die Kernaussagen, die man aus der Studie ableiten kann, hilfreich: Die Resultate decken sich mit denjenigen früherer Studien, obwohl die Einschlusskriterien viel breiter angelegt waren. Damit geben sie größere Sicherheit bei den Off-Label-Indikationen – die Standards der Lyse-Therapie müssten aber durch IST-3 nicht geändert werden. „Es gilt nach wie vor, dass der Nutzen einer Thrombolyse-Therapie in den ersten 90 Minuten nach dem ischämischen Insult am größten ist“, betont Professor Hacke ausdrücklich. Die Studienergebnisse hätten noch einmal eindrucksvoll die Effektivität und Sicherheit dieser Therapie auch in Grenzbereichen der geltenden Indikationen belegt.

Generell sollten alle Schlaganfallpatienten eine adäquate und möglichst frühzeitige Thrombolyse-Therapie erhalten. Keinesfalls dürften die neuen Daten so interpretiert werden, dass es jetzt ein längeres Zeitfenster bis 6 Stunden gibt, in denen die Lyse als Routinetherapie eingesetzt werden kann, so Professor Hacke weiter.

Die IST-3-Studie

Zwischen den Jahren 2000 und 2011 wurden insgesamt 3035 Schlaganfall-Patienten aus 12 Ländern in die IST-3-Studie (International Stroke Trial 3) aufgenommen. 53 Prozent der Probanden waren über 80 Jahre alt. 1515 Personen wurden mit Alteplase, dem rekombinanten Tissue Plasminogen Activator rt-PA (0,9 mg/kg), behandelt, 1520 wurden der Kontrollgruppe zugeordnet. Das Zeitfenster zwischen dem Auftreten der ersten Symptome bis zur Lyse wurde von bisher 4,5 Stunden auf 6 Stunden ausgedehnt. Primäres Ziel der Studie war es, nach 6 Monaten die Anzahl der überlebenden Patienten zu bestimmen, die auch in der Lage waren, den Alltag weitestgehend selbstständig zu bewältigen. Nach diesem Zeitraum waren 37 Prozent in der rt-PA-Gruppe und 35 Prozent in der Kontrollgruppe am Leben und konnten sich selbst versorgen. Durch die Lyse-Therapie konnte somit im primären Endpunkt keine signifikante Verbesserung erzielt werden. Betrachtet man die Verbesserung über das ganze Spektrum der Behinderungsgrade, so war dieses unter Lyse-Therapie um 27 Relativprozent größer (OR 1,27; 95 Prozent CI 1,10–1,47; p=0•001). Innerhalb der ersten sieben Tage nach dem Schlaganfall war die Mortalität nach der Lyse höher (11 Prozent) als in der Kontrollgruppe (7 Prozent). Dies wurde vor allem auf die signifikante Zunahme intrakranieller Blutungen zurückgeführt (7 Prozent versus 1 Prozent). Nach 6 Monaten war kein Unterschied mehr ersichtlich; in beiden Gruppen waren jeweils 27 Prozent der Patienten verstorben. In den Subgruppenanalysen ergab sich bezüglich der Patienten über 80 Jahre, der Patienten mit sehr schweren Schlaganfällen und der Patienten, die erst nach 4,5 Stunden behandelt wurden, kein Hinweis auf ein ungünstiges Nutzen-/Risikoverhältnis. „Dies widerspricht allerdings der letzten gepoolten Analyse (Lees KR et al, The Lancet 2010), in die alle bis dahin durchgeführten Studien mit weit höherer Datenqualität eingegangen sind“, stellt Professor Hacke, Koautor dieser Studie, fest. Dort wurde bei den zwischen 4,5 und 6 Stunden behandelten Patienten ein signifikant erhöhtes Mortalitätsrisiko nach 3 Monaten beschrieben.

Meta-Analyse mit entsprechenden Ergebnissen

Eine Meta-Analyse, in der zwölf rt-PA-Studien, darunter auch die IST-3-Studie, mit Daten von insgesamt 7012 Patienten ausgewertet wurden, bestätigen die Resultate der gepoolten Analyse. Alle Probanden hatten innerhalb der ersten 6 Stunden nach dem Schlaganfall rt-PA erhalten. Nach 6 Monaten waren in der rt-PA-Gruppe 46,3 Prozent am Leben und konnten selbstständig für sich sorgen, in der Kontrollgruppe traf dies nur auf 42,1 Prozent der Patienten zu. Der größte Nutzen zeigte sich bei Patienten, die innerhalb von drei Stunden behandelt wurden: 40,7 Prozent gegenüber 31,7 Prozent in der Kontrollgruppe. Die Mortalitätsrate war in der Kontrollgruppe mit 18,5 Prozent nahezu gleich hoch wie im rt-PA-Arm (19,1 Prozent). Bei den über 80-Jährigen war die Behandlung ebenso effektiv wie bei den jüngeren Patienten.

Referenzen:

Wardlaw JM et al: Recombinant tissue plasminogen activator for acute ischaemic stroke: an updated systematic review and meta-analysis. The Lancet 2012, 379: 2364-2372

The IST-3 collaborative group: The benefits and harms of intravenous thrombolysis with recombinant tissue plasminogen activator within 6 h of acute ischaemic stroke (the third international stroke trial [IST-3]): a randomised controlled trial. The Lancet 2012, 379: 2352-2363

Leese KR, Hacke W et al: Time to treatment with intravenous alteplase and outcome in stroke: an updated pooled analysis of ECASS, ATLANTIS, NINDS, and EPITHET trials. The Lancet 2010, 375: 1695-703

Fachlicher Kontakt bei Rückfragen:

Prof. Dr. med. Martin Grond
3. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
Chefarzt der Neurologischen Klinik am Kreisklinikum Siegen
Weidenauer Straße 76, 57076 Siegen
Tel.: +49 (0) 271 705-1800, Fax: +49 (0) 271 705-1804
E-Mail: m.grond@kreisklinikum-siegen.de
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Dipl. Psych. Werner Hacke
Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg
Tel.: +49 (0) 6221 568-211, Fax: +49 (0) 6221 565-348
E-Mail: Werner.Hacke@med.uni-heidelberg.de
Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
Tel.: +49 (0) 89 461486-22, Fax: +49 (0) 89 461486-25
E-Mail: presse@dgn.org
Pressesprecher: Prof. Dr. Hans-Christoph Diener
Pressestelle der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft
Tel.: +49 (0)711 8931-380, Fax: +49 (0)0711 8931-167
E-Mail: arnold@medizinkommunikation.org
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
sieht sich als neurologische Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren mehr als 7000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist die Bundeshauptstadt Berlin.

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1. Vorsitzender: Prof. Dr. med. Wolfgang Oertel
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