Mit dem Skalpell in ein normales Leben – Chirurgie bei Kindern mit Epilepsie

„Das Entfernen von epilepsieerzeugenden Fehlbildungen im Gehirn oder sogar das Abtrennen einer ganzen Gehirnhälfte wird oft zu spät und insgesamt zu selten durchgeführt, weil das Wissen über diese Behandlungsoption noch zu wenig verbreitet ist“, mahnt Professor Martin Staudt, Tagungspräsident der Jahrestagung der Gesellschaft für Neuropädiatrie, die im Rahmen der Neurowoche 2014 in München stattfindet. Die Epilepsie ist eine der häufigsten Krankheiten, die von Kinderneurologen behandelt werden.

„Die Diagnostik und Behandlung der kindlichen Epilepsie hat in letzter Zeit wesentliche Fortschritte erzielt“, so der Chefarzt der Neuropädiatrie der Schön Klinik in Vogtareuth. Das Behandlungsspektrum habe sich deutlich erweitert, die Behandlungserfolge verbessert, so Staudt heute auf der Neurowoche.

Epilepsie ist eines der wichtigsten Themen der Neuropädiatrie

Etwa fünf Prozent aller Menschen erleiden mindestens einmal in ihrem Leben einen Krampfanfall. Einer von 200 hat eine chronische Epilepsie mit wiederkehrenden Krampfanfällen. Bei zwei Drittel aller Patienten beginnt die Erkrankung vor dem 20. Lebensjahr, unter den geschätzten insgesamt 400.000 bis 800.000 Patienten in Deutschland sind deshalb 14 Prozent Kinder. Epileptische Anfälle werden sogar schon beim ungeborenen Kind berichtet [1], können bei Neugeborenen auftreten [A] und reichen bis ins hohe Erwachsenenalter.

Die Erscheinungsbilder sind sehr verschieden: von einem abrupten, kurzen Innehalten bis hin zum „Grand mal“-Anfall mit Sturz, Bewusstlosigkeit und Zuckungen am ganzen Körper. Gerade bei Kindern und Jugendlichen kann die Krankheit gravierende Auswirkungen haben: Das beginnt bei der Störung der frühkindlicher Entwicklung, zum Beispiel mit Entwicklungsverzögerungen, kognitiven Defiziten, geht über – oftmals durchaus vermeidbare – Nachteile in Kindergarten oder Schule [2] und reicht bis zum Führerschein und der Teilnahme am Straßenverkehr, der Wahl der Sportarten, Empfängnisverhütung, Schwangerschaft oder Berufswahl [B]. Eine besondere Herausforderung ist die Behandlung von Jugendlichen, die schrittweise die Verantwortung für ihre Erkrankung von ihren Eltern übernehmen müssen.

Oberstes Ziel: Ein möglichst normales Leben

70 Prozent der kindlichen Epilepsien lassen sich mit Medikamenten ausreichend gut behandeln. Den übrigen 30 Prozent, den sogenannten pharmako-refraktären Epilepsien, bei denen Behandlungsversuche mit mehreren Medikamenten bereits gescheitert sind, gilt der Schwerpunkt des wissenschaftlichen Interesses.

Wichtige Unterscheidung: strukturelle versus genetische Epilepsien

Mediziner unterscheiden unter anderem genetische Epilepsien, die durch Veränderungen im Erbgut ausgelöst werden, von strukturellen Epilepsien, die auf eine sichtbare Veränderung im Gehirn – oft sind das Fehlbildungen – zurückgehen [C,3]. Zu deren Entstehung hat Professor Pasko Rakic von der Yale University bahnbrechende Entdeckungen publiziert [4]. Die anfallsauslösenden Veränderungen im Gehirn lassen sich bei strukturellen Epilepsien mit modernen Methoden der Kernspintomographie (MRT) visualisieren. Sie nehmen von einer bestimmten Region des Gehirns ihren Ausgang und können in manchen Fällen mit einem chirurgischen Eingriff therapiert werden [5,6].

Epilepsiechirurgische Eingriffe bei Kindern

Die chirurgischen Eingriffe reichen von der Entfernung umgrenzter epilepsieauslösender Fehlbildungen, Narben oder Tumoren im Gehirn bis hin zur Hemisphärotomie, der vollständigen chirurgischen Abtrennung der gesamten epileptogenen Gehirnhälfte, und sind oft der Startpunkt für eine normale Entwicklung des Kindes. Faszinierend ist, dass mit diesem gravierenden Eingriff oft keine neuen Funktionsausfälle verbunden sind. Denn das kindliche Gehirn hat eine ausgeprägte Neuroplastizität und häufig sind aufgrund der zugrunde liegenden Läsionen viele Funktionen bereits vor der Operation in die gesunde Hemisphäre verlagert [7,8].

Störfeuer auf die gesunden Hirnteile unterbinden

Nach dem chirurgischen Eingriff sind, je nach Ursache der Epilepsie, 50 bis mehr als 90 Prozent der Patienten anfallsfrei. Neben Anfallsfreiheit ist ein weiteres bedeutendes therapeutisches Ziel, das epileptische „Störfeuer“ zu beenden, das die gesunden Hirnteile in ihrer Entwicklung massiv stört. Trotzdem werden immer noch viele Kinder viel zu spät in ein Epilepsiezentrum mit chirurgischer Expertise überwiesen, wohl aus Unkenntnis über die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten bei pharmako-refraktären kindlichen Epilepsien.

Genetik als Schlüssel: genetisch bedingte Epilepsien

Bei vielen Epilepsien kennt oder vermutet man Veränderungen im Erbgut des Patienten als Ursache. Bei diesen Epilepsie-Formen sind in aller Regel keine chirurgischen Eingriffe möglich. Dafür gibt es rasante Fortschritte durch neue genetische Diagnostikverfahren wie das Next-Generation-Sequencing, die mehrfach auf der Neurowoche besprochen werden. „Derzeit vergeht kaum ein Monat ohne die Publikation eines neuen Epilepsie-Gens“, so Professor Martin Staudt. Allerdings sind monogenetisch bedingte Epilepsien, jede für sich genommen, sehr selten und gelten daher als Orphan Diseases, also verwaiste Krankheiten. Sie verlangen eine Zusammenarbeit über viele Zentren hinweg, um Therapieempfehlungen zu erarbeiten.

Die Wissenschaft arbeitet daran, die genetische Diagnose für die klinische Versorgung zu nutzen. Ein Beispiel ist die Wahl des Medikaments bei Epilepsien durch Mutationen des Gens SCN1A, das einen Natriumkanal in der Zellmembran von Nervenzellen kodiert. Bei solchen Patienten müssen einige Epilepsie-Medikamente, die über diesen Kanal wirken, vermieden werden, weil sie zu einer Verstärkung der Anfallsaktivität führen können.

Was ist Neuropädiatrie?

Die Neuropädiatrie (Synonyme: Kinderneurologie, Neurologie des Kindes- und Jugendalters, pädiatrische Neurologie, englisch: Pediatric Neurology) beschäftigt sich mit der Prävention, Diagnostik und Therapie aller Erkrankungen des Nervensystems vom Neugeborenenalter (und manchmal auch davor) bis zur Adoleszenz. Sie umfasst dabei auch die Gebiete Entwicklungsneurologie und Neurorehabilitation sowie die Palliativmedizin bei neurologisch kranken Kindern und Jugendlichen. In Deutschland ist Neuropädiatrie eine Schwerpunktbezeichnung, die nur von Fachärzten für Kinder- und Jugendmedizin im Anschluss an die Facharztausbildung erworben werden kann (3-jährige Weiterbildung).
Die Gesellschaft für Neuropädiatrie ist die wissenschaftliche Fachgesellschaft des Gebiets für die drei deutschsprachigen Länder Deutschland, Österreich und Schweiz und hat derzeit über 900 Mitglieder.

Themenbezogene Vorträge der Neurowoche

[1] G. Kurlemann: „Intrauterine epileptische Anfälle – möglich ?!“, Freitag, 19.09.2014, 11:00 Uhr, Saal 11
[2] A. Bertsche: „Wissen und Einstellungen von Lehrern, Sozialpädagogen/Erziehern und Lehramtsstudenten zur Erkrankung Epilepsie bei Kindern“ , Freitag, 19.09.2014, 12:20 Uhr, Saal 11
[3] H. Urbach: „Epilepsie MRT bei Kindern: Was ist anders?“, Freitag, 19.09.2014, 9:30 Uhr, Saal 14b
[4] P. Rakic: „Dislocation Syndrome: Disorders of Neuronal Migration“, Donnerstag, 18.09.2014, 15:45 Uhr,
Saal 01 im Rahmen der Verleihung des Peter-Emil-Becker-Preises an Pasko Rakic
[5] R. Coras: „Neuropathologie fokaler kortikaler Dysplasien“, Freitag, 19.09.2014, 9:15 Uhr, Saal 14b
[6] J. Zentner: „Extratemporale Eingriffe im Kindesalter: Besonderheiten in Diagnostik und Terminierung der Operation“, Freitag, 19.09.2014, 10:15 Uhr, Saal 14b
[7] M. Staudt: „Funktionelle Bildgebung und Reorganisation“, Freitag, 19.09.2014, 9:45 Uhr, Saal 14b
[8] M. Kudernatsch: „Hemisphärotomie und Callosotomie: Indikation, Technik, Outcome“, Freitag, 19.09.2014, 10:00 Uhr, Saal 14b

Poster Session – Epilepsie und Schlafmedizin II

[A] P343 Neonatal Seizures: Evaluation of Current Classification Systems
M. Ensslen (Planegg), L. Menzies (London, GB), I. Borggräfe (München), F. Heinen (München), F. Moeller
(London, GB), S. Boyd (London, GB), R. Pressler (London, GB)
[B] P345 Lebensqualität und körperliche Fitness bei Kindern & Jugendlichen mit Epilepsie (EpiFit)
C. Hagn (Innsbruck, AT), R. Walch (Innsbruck, AT), M. Baumann (Innsbruck, AT), E. Haberlandt (Innsbruck, AT), M. Frühwirth (Zams, AT), K. Rostásy (Innsbruck, AT), M. Rauchenzauner (Zams, AT)
[C] P340 Long-Term Outcome in Different Types of Focal Cortical Dysplasia
S. Fauser (Ulm), D.-M. Altenmüller (Freiburg), A. Staak (Kehl-Kork), B. J. Steinhoff (Kehl-Kork), K. Strobl
(Kehl-Kork), T. Bast (Kehl-Kork), S. Schubert-Bast (Heidelberg), U. Stephani (Kiel), G. Wiegand (Kiel), M. Prinz (Freiburg), B. Armin (Freiburg), J. Zentner (Freiburg), A. Schulze-Bonhage (Freiburg)

Medienkontakt

Prof. Dr. med. Martin Staudt
Präsident 2014 der Jahrestagung der Gesellschaft für Neuropädiatrie
Schön Klinik Vogtareuth, Neuropädiatrie
Krankenhausstraße 20, 83569 Vogtareuth
Tel.: +49 (0)8038 90 14 18
Fax: +49 (0)8038 90 34 18
E-Mail: MStaudt@Schoen-Kliniken.de

Pressestelle der Neurowoche
E-Mail: presse@dgn.org; Tel.: +49 (0)89 46 14 86 22
Pressezentrum Neurowoche vom 15. September bis 19. September: +49 (0)89 94 97 95 00

Über die Neurowoche
Die Neurowoche, der größte interdisziplinäre Kongress der deutschsprachigen klinischen Neuromedizin, findet vom 15. bis 19. September 2014 in München statt. Unter dem Motto „Köpfe – Impulse – Potenziale“ tauschen sich bis zu 7000 Experten für Gehirn und Nerven über die medizinischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Neuromedizin aus. Veranstalter ist die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Beteiligt an der Neurowoche sind die Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP), die Deutsche Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie (DGNN) mit ihren Jahrestagungen sowie die Deutsche Gesellschaft für Neuroradiologie (DGNR) und die Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC).

http://www.neurowoche2014.org

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