Kurz- und Langzeitgedächtnis weniger getrennt als bisher angenommen

Neurowissenschaftler der Universität Magdeburg und des University College London haben nun gezeigt, dass diese Unterscheidung zwischen Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis neu überdacht werden muss.

Ein wichtiger Hinweis für diese Unterscheidung stammt von eindrucksvollen Beobachtungen bei Patienten mit Amnesie, deren Fähigkeit lang anhaltende Erinnerungen auszubilden stark beeinträchtigt ist. Diese Patienten haben verheerende Einbußen des Langzeitgedächtnisses, können sich jedoch relativ gut beispielsweise eine Telefonnummer für kurze Zeit merken, vorausgesetzt ihre Aufmerksamkeit wird währenddessen nicht abgelenkt. Häufig wird Amnesie durch eine Verletzung der Hippocampi hervorgerufen, einer paarigen Hirnstruktur, die in den Tiefen des Temporallappens lokalisiert ist. Es wird daher angenommen, dass die Hippocampi das Langzeit- jedoch nicht das Kurzzeitgedächtnis unterstützen.

Nathan Cashdollar, Emrah Duzel und Kollegen von der Universität Magdeburg und des University College London zeigen, dass diese Unterscheidung zwischen Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis neu überdacht werden muss. Sie untersuchten Patienten mit einer besonderen Epilepsieform, der Temporallappenepilepsie mit bilateraler hippocampaler Sklerose, die zu einer ausgeprägten Dysfunktion der Hippocampi führt. Die Patienten sollten sich Fotografien von natürlichen Szenen, beispielsweise einem Wohnzimmer mit Stühlen und Tischen, einprägen. Ihr Gedächtnis wurde nach einem kurzen Zeitintervall von nur 5 Sekunden oder einem langem Zeitabstand von 60 Minuten getestet. Wie erwartet, konnten die Patienten nicht zwischen den gelernten und völlig neuen Bildern nach dem langen Zeitintervall unterscheiden, zeigten jedoch normale Leistungen nach 5 Sekunden. Allerdings trat auch schon nach 5 Sekunden ein merkliches Defizit auf, wenn detaillierte konfigurale und relationale Aspekte der Szene im Gedächtnis gehalten werden mussten, beispielsweise ob der Tisch links oder rechts von den Stühlen stand.

Die Neurowissenschaftler aus Magdeburg und London nahmen die Hirnaktivität von den Patienten auf, während diese die Gedächtnisaufgaben lösten. Dabei entdeckten die Autoren, dass das Kurzzeitgedächtnis für konfigural-relationale Aspekte von Szenen, die aufeinander abgestimmte Aktivierung eines Netzwerkes aus visuellen und temporalen Hirnarealen erforderte, wohingegen das normale Kurzzeitgedächtnis ein gänzlich anderes Netzwerk beanspruchte.

Bemerkenswert hierbei war, dass diese koordinierte Aktivierung von visuellen und temporalen Hirnarealen bei Patienten mit hippocampaler Sklerose unterbrochen war.

Die vorliegenden Ergebnisse deuten auf zwei getrennte Kurzzeitgedächtnis-Netzwerke im Gehirn hin: eines, das unabhängig vom Hippocampus fungiert und bei Patienten mit Langzeitgedächtnisstörungen intakt bleibt, und ein weiteres, das vom Hippocampus abhängig ist und mit Störungen des Langzeitgedächtnisses einhergeht.

Aufgrund der vorliegenden Ergebnisse sollte die klassische funktional-anatomische Unterscheidung zwischen Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis, die seit nahezu einem halben Jahrhundert besteht, neu überdacht werden. Die Befunde zeigen, dass Patienten mit beeinträchtigtem Langzeitgedächtnis auch mit Kurzzeitgedächtnisproblemen in ihrem täglichen Leben zu kämpfen haben.

Zitat:
Cashdollar,N., Malecki,U., Rugg-Gunn,F.J., Duncan,J.S., Lavie,N., Duzel,E.
'Hippocampus-dependent and -independent theta-networks of active maintenance`
PNAS published online before print November 16, 2009,
doi:10.1073/pnas.0904823106
Kontakt:
Prof. Dr med Emrah Düzel
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Faculty of Medicine
Institute of Cognitive Neurology and Dementia Research
Leipziger Str. 44 39120 Magdeburg Germany
Tel.: 0049 391 6117 521 Fax: 0049 391 6117 522
email: emrah.duezel@med.ovgu.de

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