Das Gehirn erinnert sich fehlender Gliedmaßen

Eine Handprothese mit &quot;Rückmeldemechanismus&quot; haben Wissenschaftler der Universität Jena entwickelt. Nun konnten sie zudem anatomische Veränderungen im Gehirn von amputierten Patienten feststellen. Foto: Jan-Peter Kasper/FSU<br>

Phantomschmerzen können Patienten das Leben zur Hölle machen. Nahezu jeder Patient berichtet nach einer Amputation von sogenannten Phantomsensationen. Diese Empfindungen können von leichter Intensität sein, etwa in Form von Wetterfühligkeit, aber auch so heftig, dass manche Patienten als letzten Ausweg den Suizid in Erwägung ziehen.

Es handele sich keineswegs um ein singuläres Phänomen, sagt Prof. Dr. Thomas Weiß von der Universität Jena. Immerhin verlieren in Deutschland jedes Jahr etwa 100 000 Menschen Gliedmaßen durch Amputation. Ursachen sind Unfälle, Krebs oder Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes.

Weiß leitet eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zur Erforschung von Phantomschmerzen am Lehrstuhl für Biologische und Klinische Psychologie von Prof. Dr. Wolfgang H. R. Miltner. In einem gerade beendeten Projekt hat die Arbeitsgruppe untersucht, ob es anatomische Veränderungen im Gehirn von Amputierten gibt. „Wir konnten zeigen, dass nach einer Amputation das Volumen in Kortexarealen zunimmt, die dem dorsalen und ventralen visuellen Pfaden zugerechnet werden“, sagt Dr. Sandra Preißler von der Arbeitsgruppe um Prof. Weiß. Erklären lässt sich dieser Befund mit der Tatsache, dass Patienten mit einer Prothese bestimmte Bewegungsabläufe visuell kontrollieren bzw. steuern müssen, die ein gesunder Mensch automatisiert verrichtet. Interessanterweise fällt diese Volumenzunahme bei Patienten mit starken Phantomschmerzen geringer aus, sagt Preißler. Thomas Weiß vermutet einen Zusammenhang mit der Prothesennutzung: „Patienten, die ihre Prothese oft tragen und benutzen, trainieren zugleich die für das Visuelle zuständigen Hirnareale.“
Insgesamt 28 Patienten nahmen an der Studie teil. Darunter waren Schmerzpatienten und Patienten mit leichten oder ohne Beschwerden. Die Gehirnscans wurden per hochauflösendem Magnet-Resonanz-Tomographen erstellt.
Wie Prof. Weiß erläutert, konnten die Jenaer Wissenschaftler auch nachweisen, dass die durch den Verlust einer Hand oder eines Armes freiwerdenden Hirnareale von ihren Nachbarstrukturen „erobert“ werden. Offensichtlich greife hier jener evolutionäre Effekt, der beispielsweise die Steuerungs-Areale der Spielhand von Violinisten wachsen lässt. Sandra Preißler, die gemeinsam mit Johanna Feiler für die Hirn-Scans der Probanden verantwortlich zeichnete, hat ein anschauliches Bild für dieses Phänomen gefunden: „Es ist zu vergleichen mit einer Wiese, die nicht mehr gepflegt und nun von den umgebenden Gebüschen zurückerobert wird.“ Thomas Weiß konstatiert, dass dieser Effekt ein Beleg für die hohe Dynamik des Systems Gehirn ist. Noch sei keine therapeutische Relevanz der Forschungsergebnisse gegeben, sagt Weiß. Doch die Forschung geht weiter.

Gefördert von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung wollen die Jenaer Wissenschaftler in ihrer aktuellen Studie Bein- und Fußamputierte einbeziehen. Gesucht werden Patienten, die möglichst aus der Region kommen. Interessierte können sich bei Dr. Sandra Preißler anmelden, Telefon 03641 945157, s.preissler[at]uni-jena.de.
Kontakt:
Prof. Dr. Thomas Weiß / Dr. Sandra Preißler
Institut für Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Am Steiger 3 / Haus 1, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 945143, 945157
E-Mail: thomas.weiss[at]uni-jena.de, s.preissler[at]uni-jena.de

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Stephan Laudien Friedrich-Schiller-Universität J

Weitere Informationen:

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