Alzheimer in der Leistungsgesellschaft – Deutschlands jugendliches Idealbild bekommt Falten

Den Traum vom ewigen Leben können wir uns derzeit noch nicht erfüllen, wohl aber werden wir seit den vergangenen 100 Jahren um einiges älter. Das ist nicht neu: die Lebensbedingungen haben sich – zumindest für die Menschen in der westlichen Welt – kontinuierlich verbessert, demzufolge erhöht sich auch die durchschnittliche Lebenserwartung. Was auf den ersten Blick eine durchweg positive Entwicklung zu sein scheint, birgt jedoch eine Reihe von negativen Konsequenzen.

Die Alterspyramide kehrt sich um: statt aus zumeist jungen besteht unsere Gesellschaft inzwischen zu einem bedeutenden Teil aus Menschen in der zweiten Lebenshälfte – und deren Zahl wird weiter steigen. Eine Entwicklung, die eine Reihe gesamtgesellschaftlicher Probleme aufwirft. Das Ende des Generationenvertrags ist in greifbare Nähe gerückt; es wird immer unmöglicher, für die Älteren aufzukommen. Dies bezieht sich auch auf das Gesundheitswesen, welches der Konfrontation mit den sogenannten „Alterskrankheiten“ nicht gewachsen ist.

Mit diesem Thema und den daraus resultierenden Problemen beschäftigt sich der Vortrag „Neurodegenerative Erkrankungen: Probleme im Spannungsfeld zwischen Neurologie und Gesellschaft“. Oberarzt Privatdozent Dr. med. habil Kai Wohlfarth von der Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universität Leipzig spricht dazu am 13. März um 18.15 Uhr im Hauptgebäude der Universität (Augustusplatz 10/11). Die Veranstaltung findet in der vierten Etage, im Raum 24 statt. Im Anschluss an den Vortrag gibt es Gelegenheit zur Diskussion. Für die Auseinandersetzung mit diesem immer dringlicher werdenden Aspekt ist es nach Ansicht Wohlfarths höchste Zeit. Zu wenige Menschen seien sich der Problematik unserer überalterten Gesellschaft tatsächlich bewusst, wenngleich der Blick dafür auf Grund des Medieninteresses an der kürzlich diskutierten Stammzellentransplantation inzwischen geschärft sei. Gegen das Unwissen und die Ignoranz – sowohl in der Bevölkerung als auch bei den eigenen Kollegen – möchte Wohlfarth vorgehen. Durch seinen Vortrag hofft er Multiplikatoren zu finden, die die Diskussion in verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen anregen.
Genauso wichtig ist dem Neurologen allerdings sein persönliches Engagement als betreuender Arzt in ambulanten Spezialsprechstunden für Betroffene sowie in Selbsthilfegruppen für Patienten und Angehörige. Diese Gruppen leisten einen wertvollen Beitrag für den alltäglichen Umgang mit neurodegenerativen Erkrankungen. Der Erfahrungsaustausch hilft, Möglichkeiten der Pflege – sei es im häuslichen Umfeld oder in besonderen Heimen – aufzuzeigen bzw. rechtliche Fragen wie die Vermögensverwaltung oder die Einverständniserklärung für Operationen zu klären. Im frühen Stadium der Erkrankung, wenn die Patienten noch in der Lage sind, darüber zu reflektieren, unterstützt sie die Gruppe auch dabei, ihr Schicksal zu akzeptieren und damit umgehen zu lernen.

Unter den sogenannten „Alterskrankheiten“ versteht man Erkrankungen des Nervensystems, die einerseits den Verlust von Gedächtnis- und Orientierungsfähigkeiten nach sich ziehen und andererseits das Nachlassen motorischer Leistungen bewirken können. Alzheimerdemenz und Morbus Parkinson sind dabei die häufigsten Formen. Diese Krankheiten treten verstärkt nach dem 65. Lebensjahr auf, zwei bis drei Prozent der Bevölkerung sind inzwischen davon betroffen. Innerhalb von wenigen Jahren ist der Patient meist nicht mehr in der Lage, allein im Alltag zurecht zu kommen. Er ist auf die Hilfe von Angehörigen oder Pflegepersonal angewiesen. Möglichkeiten der Heilung gibt es bislang nicht, da die Wissenschaftler sich über die Entstehung der Krankheit im Unklaren sind. Es werden allerdings eine Reihe von Therapien angewandt, die das Fortschreiten der neuronalen Degeneration hinauszögern und so einen Zugewinn an Lebensqualität erreichen.
Beim Morbus Parkinson wird der Botenstoff Dopamin im Gehirn nicht ausreichend gebildet, dieser Mangel kann für einige Zeit durch Medikamente ausgeglichen werden. In verschiedenen medizinischen Zentren Deutschlands finden auch experimentelle Verfahren Anwendung: geeigneten Patienten wird ein „Hirnschrittmacher“ eingepflanzt. In Leipzig gehört diese Methode allerdings noch nicht zur gängigen Praxis.
Für die Alzheimerdemenz gibt es kaum wirkungsvolle Therapien; es kann lediglich versucht werden, mit Hilfe von Medikamenten den Abbau des für Lernprozesse benötigten Botenstoffs Azetylcholin im Zentralnervensystem zu verlangsamen.

Doch nicht nur die Patienten, sondern auch deren Angehörigen bedürfen einer intensiven Betreuung durch den behandelnden Arzt. Sie müssen u.a. über die Symptome der Krankheit aufgeklärt werden und wissen, dass sie im Falle einer Demenzerkrankung von ihren betroffenen Verwandten eines Tages nicht mehr erkannt werden. Für die an neurodegenerativen Erkrankungen Leidenden muss sehr viel Verständnis aufgebracht werden – eine Aufgabe, die viele Familien nicht zu leisten imstande oder gewillt sind. Die von der modernen Gesellschaft geforderte Flexibilität zwingt viele Berufstätige, ältere Angehörige sich selbst zu überlassen und nur im äußersten Notfall einzugreifen – doch dann ist es für vieles schon zu spät. Herr Wohlfarth kritisiert in diesem Zusammenhang den zunehmenden Egoismus in unserer an Leistung orientierten Gesellschaft, die keinen Platz mehr bietet für alternde, gebrechliche Menschen.
Diesen Platz aber werden wir ihnen allmählich einräumen müssen, denn vor der sozialen Realität können wir die Augen nicht mehr lange verschließen.

Verfasserin: Corinna Lange

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Dr. Bärbel Adams idw

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