Wenn Ärzte wieder zu Schülern werden

Ungewöhnliches Ausbildungs-Training für Heidelberger Medizin-Dozenten – Erster Lehrgang im Odenwald für „praxisnahes Studium“ erfolgreich abgeschlossen – Völlig neues, stark praxisorientiertes Programm

Im Herbst haben 250 motivierte junge Menschen ihr Medizinstudium an der Universität Heidelberg begonnen mit dem Ziel, später einmal gute Ärzte zu werden. Eigentlich wie jedes Jahr – und doch ist diesmal alles anders: „Wir beginnen in diesem Semester in der klinischen Ausbildung mit einem völlig neuen, stark praxisorientierten Programm“, freut sich Dr. Jana Jünger, Assistenzärztin in der Inneren Medizin. „heicumed“ heißt der moderne Ausbildungsgang, den ein modulares themenzentriertes Kursprogramm mit interdisziplinären Schwerpunkten auszeichnet. Doch den müssen auch die Dozenten zunächst selber lernen…

Zusammen mit vielen Kollegen organisiert Jana Jünger deshalb Vorbereitungskurse für alle Ausbilder: „Das Vortragen geballten Fachwissens in einem riesigen Hörsaal wird abnehmen.“ Künftig soll der komplexe Lernstoff intensiv in Kleingruppen erarbeitet werden. „Wir setzen auf Teamarbeit, Training mit Laienschauspielern als Patienten und gänzlich neue Prüfungsmethoden“, so die engagierte Medizinerin. Angeregt wurde das Projekt durch die Ausbildung an der berühmten Harvard University, USA. Die Medizinische Fakultät lässt sich die spezifische Umsetzung für Heidelberg mehrere Millionen Mark pro Jahr kosten.

Mediziner auf dem Prüfstand

Ein erster „Trainingslauf“ wurde jetzt im Odenwald absolviert: 40 Dozentinnen und Dozenten trafen sich im Erbacher Hof, um fünf Tage lang von früh bis spät intensiv zu lernen, sich auszutauschen und die neue Ausbildung mit zu gestalten, um sie später in den verschiedenen klinischen Fächern umzusetzen. „Die Lehrenden müssen neue Unterrichtsmethoden entwickeln. Die Lehre ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen, künftig wird es einen viel stärkeren Austausch mit den Studenten geben“, so Jünger.

Damit die Dozenten wissen, wie es ihren Schülern geht, übernehmen sie während des Trainings selber die Rolle der Studenten – was zum Teil viel Überwindung kostet: „Im Laufe der Jahre hat man vieles aus der Praxis vergessen. Diese Wissenslücken bei Übungen vor der Gruppe zu zeigen, das fällt schon schwer“, seufzt ein Teilnehmer. Den anderen geht es nicht viel besser, doch bald überwiegt der Spaß am Training die anfänglichen Hemmungen.

Blick hinter die Kulissen: Der Trainings-Parcour

Mit einer völlig neuartigen Prüfungsmethode, dem Trainings-Parcour, soll künftig sowohl das Fachwissen als auch die soziale Kompetenz des angehenden Arztes erkannt werden. „Hier gestalten verschiedene Fachgebiete interdisziplinär Prüfungen. Damit wird die Prüfung quasi zur letzten Lernchance für den Studenten“, meint Prof. Hubert Bardenheuer, Sprecher der Kurskoordinatoren der einzelnen Kliniken und Institute. Sechs Stationen hatten die Mentoren im Odenwald aufgebaut, an denen die Teilnehmer ihr medizinisches und soziales Können unter Beweis stellen mussten. Ganz so, wie später einmal die Studenten bei der Abschlussprüfung.

Station 1: Der Spiegelkurs

Hier musste eine Spiegelung des Nasen-Rachen-Raumes und eine Inspektion des äußeren Gehörganges und des Trommelfells durchgeführt werden. Jana Jünger: „Die richtige Handhabung der Geräte ist dabei nur eine zu beurteilende Komponente. Es geht auch darum, wie der Arzt seinen Patienten begegnet und informiert. Also die Überprüfung von praktischen Fähigkeiten und sozialer Umgang mit Patienten.“

Station 2: Beschreibung von Gangstörungen

Nicht trockene Akten, sondern ein Film zeigt das Krankheitsbild: Eine Frau läuft schwankend und unsicher. Ist sie betrunken? Oder hat sie eine neurologische Erkrankung? „Hier müssen die Prüflinge die Gangstörung beschreiben und benennen.“ Das Besondere an dieser Prüfung ist der Einsatz von neuen Medien, die bisher nicht systematisch im Unterricht eingesetzt wurden.

Station 3: Patientengespräch

Das ist in Deutschland bisher einmalig: Hier erwartet ein Schauspieler den Prüfling, der über die Entfernung seiner Gallensteine aufgeklärt werden will und sehr ängstlich ist. „Der Kandidat soll den Patienten über den geplanten Eingriff informieren und dabei auf seine Fragen und Sorgen eingehen.“ Im Anschluss gibt der Schauspieler sofort sein Feedback und erzählt, ob die Untersuchung für ihn schmerzhaft war, ob der „Arzt“ sein Vertrauen geweckt hat usw. „Das alles fließt in die Prüfung ein“, so Jünger.

Station 4: Befundung von Röntgenbildern

Kleine Fallskizzen beschreiben je eine Person, deren Krankheitsbild in Form einer Röntgenaufnahme zu sehen ist. „Der Prüfling muss sofort erkennen, ob ein Knochenbruch, ein Darmverschluss oder ähnliches vorliegt.“

Station 5: Fallgeschichten

„Früher gab es für die Prüflinge nur einen Befund. Jetzt werden komplette Fallgeschichten mitsamt Ergebnissen, zum Beispiel Urinstix, erzählt“, so die Ärztin. Dann müssen Diagnose, weitere Laboranforderungen, apparative Untersuchungen und therapeutische Maßnahmen benannt werden.

Station 6: Lungenentzündung

Wieder gibt es ein Fallbeispiel, mit dem in der Lehre ein Abbild der Wirklichkeit geschaffen werden soll: Ein Patient hat Husten und klagt über Schmerzen. Anhand von klinischer Symptomatik, Röntgenbild und mikrobiologischer Diagnostik soll die Diagnose einer Lungenentzündung (Pneumonie) näher erläutert werden. Prof. Bardenheuer: „Ziel unserer ’neuen Prüfungen’ ist es, Lehrinhalte über die Fachgrenzen hinaus zu sehen und integrativ mit dem Blick auf praktische Fähigkeiten zu prüfen.“

„Da lernen sogar alte Knochen noch etwas dazu“

Die Dozenten nehmen den neuen Weg in der Lehre gerne auf. Privatdozent Dr. Philipp Schnabel meint begeistert: „So viel Innovation, das ist eine richtige Revolution in der Lehre.“ Ehrlich gibt er zu: „Manchmal habe ich in der Studentenrolle wirklich Stress empfunden. Aber das tut uns ganz gut und wir haben wieder mehr Verständnis für Studenten, die in dieser Situation stehen.“ Seit 23 Jahren ist der Pathologe in der Lehre tätig, lächelt verschmitzt: „Da kann sogar so ein alter Knochen wie ich noch etwas dazulernen. Künftig werde ich noch mehr fallbezogene Beispiele als bisher einsetzen und noch weniger frontal unterrichten.“

Auch Dr. Christine Wollermann, Medizinische Biometrie, sieht neue Wege in ihrem eher „trockenen“ Fach: „Ich werde meinen Unterricht mit mehr praktischen Beispielen lebendiger gestalten. Die Studenten sollen nicht nur zuhören, sondern selber aktiv den Unterricht mitgestalten.“ Ihr besonderes Lob gilt den Veranstaltern: „Die Tutoren sind mit großem Engagement dabei und haben beeindruckendes Material zusammengestellt.“

Über den ungeheuren Erfolg des ersten Trainings ist Bardenheuer zu Recht stolz: „Dieser Kurs hat pädagogische Grundlagen zur Lehre und theoretisches Wissen zur Erwachsenenbildung vermittelt. Erstmals in der Geschichte der medizinischen Fakultät wurde den Dozenten ein Lehrangebot gemacht, diese systematisch in der Lehre zu schulen und mit modernen, für die Medizin spezifischen Lehrmethoden vertraut zu machen!“
Sabine Latorre

Rückfragen bitte an:
Dr. Jana Jünger
Medizinische Universitätsklinik und Poliklinik
Tel. 06221 568657, Fax 565749

Dr. Michael Schwarz
Pressesprecher der Universität Heidelberg
Tel. 06221 542310, Fax 542317

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