Wenn das Stigma zur "zweiten Krankheit" wird

DGPPN-Vorstand Prof. Gaebel: Stigmatisierung von Menschen, die an Alkoholismus oder Schizophrenie leiden am stärksten

Stigma: zusätzliche Belastung für psychisch Erkrankte

Das Stigma psychischer Erkrankungen wird auch als „zweite Krankheit“ bezeichnet. Dabei kann sich eine Stigmatisierung der Betroffenen auf Lebensqualität und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ebenso negativ auswirken wie die Beschränkung durch die psychische Erkrankung. Im Rahmen der diesjährigen Jahrestagung der Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin wies Professor Dr. Wolfgang Gaebel, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Düsseldorf und Mitglied des Vorstandes der DGPPN nachdrücklich darauf hin, dass die Betroffenen nach wie vor gravierende Nachteile befürchten müssen, wenn Sie ihre Erkrankung nicht verschweigen. Man brauche, so Gaebel, nur an die vielfältigen Probleme bei der Stellensuche, auf dem Wohnungsmarkt oder dem Abschluss von Versicherungen zu denken. Personen, die an einer Psychose erkrankt waren, sprechen daher von „Outing“, wenn sie über ihre Krankheit mit anderen Menschen sprechen.

Das Stigma betrifft nach Auffassung von Wolfgang Gaebel alle psychischen Erkrankungen. Depressionen werden von Laien seltener als behandlungsbedürftige Erkrankungen gesehen als schizophrene Störungen. Dahinter verbirgt sich das Vorurteil, depressiv Erkrankte seien nicht wirklich krank, sondern ihnen fehle es lediglich an Willenskraft oder Disziplin. An Schizophrenie Erkrankte werden häufig mit Gewalttätigkeit und Unberechenbarkeit in Verbindung gebracht. Gaebel: „Dieses Stereotyp der Gefährlichkeit von schizophren Erkrankter ist gerade für die gesellschaftliche Wiedereingliederung von Patienten ein großes Hindernis. Dabei wird das Gefahrenpotential durch schizophren Erkrankte von Laien stark überschätzt. Darüber hinaus kann eine geeignete Behandlung der Erkrankung das Risiko für Gewaltkriminalität weiter senken.“

Das Stigma psychischer Erkrankungen äußert sich für den Erkrankten auch darin, dass Freunde und Bekannte sich zurückziehen. Die zunehmende soziale Isolation führt zu einer weiteren Einschränkung der Lebenschancen der Betroffenen. Das Bedürfnis, den persönlichen Kontakt mit einer Person zu vermeiden, wird als soziale Distanz bezeichnet. Eine hohe soziale Distanz gegenüber psychisch Erkrankten gilt als eine Voraussetzung für stigmatisierendes oder diskriminierendes Verhalten, darf aber nicht mit diesem verwechselt werden. Stigmatisierendem Verhalten liegt zwar eine sozial distante Einstellung zu Grunde, sozial distante Einstellungen führen jedoch nicht automatisch zu diesem Verhalten. In der Bevölkerung variiert das Ausmaß der sozialen Distanz gegenüber verschiedenen psychischen Erkrankungen. Nach den Erfahrungen von Gaebel ist gegenüber an Alkoholismus und Schizophrenie erkrankten Personen die Distanzierung am stärksten. Angsterkrankungen und Depressionen lösen dagegen ein geringeres Bedürfnis nach sozialer Distanz aus.

Abbau von Stigma und Diskriminierung: Strategien und Maßnahmen

Wichtige Strategien zur Verringerung des Stigmas psychischer Erkrankungen sind nach Auffassung des DGPPN-Vorstandes neben der Weiterentwicklung und Verbesserung der psychiatrischen Versorgung drei Ansätze: Erstens die Aufklärung über Ursachen, Behandlungsmöglichkeiten und Verlauf psychischer Erkrankungen. Dabei besteht die Aufgabe, komplexe medizinische Aspekte wie genetische Ursachen psychischer Erkrankungen und pharmakologische Behandlungsansätze ebenso laiengerecht zu vermitteln wie die sozialen Aspekte psychischer Erkrankungen, die sich in psychosozialen Beeinträchtigungen Betroffener und deren Bewältigung äußern. Die beiden weiteren Ansätze sind der Protest gegen stigmatisierendes und diskriminierendes Verhalten, beispielsweise in der Werbung oder in den Medien, sowie die Ermöglichung von persönlichen Begegnungen zwischen psychisch Erkrankten und nicht Erkrankten. Wesentlich bei all diesen Strategien ist das gemeinschaftliche Vorgehen von Betroffenen, deren Angehörigen und psychiatrischen Experten.

Gaebel verwies darauf, dass man weltweit diese Strategien in internationalen Programmen wie dem des Weltverbandes für Psychiatrie (World Psychiatric Association, WPA) „Fighting stigma and discrimination because of schizophrenia – Open the doors“ oder der Weltgesundheitsorganisation WHO „Close the gap – dare to care“ verfolge. In Deutschland wird seit 1999 das „Open the doors“-Programm des Weltverbands für Psychiatrie in sieben Projektzentren durchgeführt. Die Zentren sind an den Universitätskliniken in Düsseldorf, Hamburg, Itzehoe, Kiel, Leipzig und München (Ludwig-Maximilians-Universität und Technische Universität) angesiedelt. Verschiedene Interventionen zum Abbau von Stigmatisierung wurden seitdem in die Tat umgesetzt: Kulturelle Publikumsveranstaltungen wie Lesungen mit Jugendlichen, Film- und Theaterabende oder Benefizkonzerte, an bestimmte Zielgruppen gerichtete Aufklärungsveranstaltungen für Journalisten, Schüler oder Polizeibeamte, und weitere Veranstaltungen wie Psychoseseminare.

Wirksamkeit der Maßnahmen: Veränderungen von Einstellungen in der Bevölkerung

In einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung aus dem Jahr 2001 mit 7246 Befragten, die man in sechs deutschen Städten (Berlin, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und München) durchgeführte, wurde das Ausmaß der sozialen Distanz gegenüber an Schizophrenie Erkrankten genauer untersucht. 4624 der Befragten nahmen drei Jahre später an einer Nachbefragung teil. Insgesamt zeigte sich ein positiver Trend: So gaben in der Nachbefragung weniger Personen an, sie hielten schizophren Erkrankte auf Grund ihres gewalttätigen Verhaltens gefährlich für die Öffentlichkeit (2001: 17,7 Prozent; 2004: 15,6 Prozent). Auch die soziale Distanz gegenüber den schizophren Erkrankten sank zwischen 2001 und 2004. Beispielsweise verringerte sich die Zahl derjenigen, die eine Freundschaft mit jemandem, der an Schizophrenie erkrankt ist, nicht fortführen könnten, von 21,8 Prozent auf 19 Porzent. Dabei zeigte sich, dass der Rückgang der sozialen Distanz insbesondere in den Städten zu verzeichnen war, in denen Antistigmaprojekte durchgeführt wurden (Düsseldorf und München). Zwar sind Schlussfolgerungen nur mit Vorsicht zu treffen, da andere Faktoren die Ergebnisse ebenfalls beeinflusst haben könnten, dennoch sind sie ein Hinweis darauf, dass die in Deutschland durchgeführten Maßnahmen erste Erfolge zeigen.

Kontakt:
Prof. Dr. Wolfgang Gaebel
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Heinrich-Heine-Universität
Rheinische Kliniken Düsseldorf
Bergische Landstraße 2
40629 Düsseldorf
Tel. 0211.922-2000
Fax 021.922-2020
Mail: wolfgang.gaebel@uni-duesseldorf.de

Pressekontakt während des Kongresses:
Pressebüro
Tel: 030.30 38 75 47
Fax: 030.30 38 81 988

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Dr. Thomas Nesseler idw

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