Die ersten Minuten sind entscheidend

„Forschungsoffensive“, Teil 6: Traumaregister hilft, die Versorgung Schwerstverletzter zu verbessern und deren Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen

Ob ein schwerer Unfall auf der A3 oder die Erstversorgung deutscher Tsunami-Opfer aus Südostasien: Schwerstverletzte, die in das Klinikum Köln-Merheim, kooperierende Klinik der Universität Witten/Herdecke, eingeliefert werden, profitieren von den Erkenntnissen des Traumaregisters der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie.

Schon 1985 begann man in Köln-Merheim mit dem Aufbau einer ersten kleineren Datenbank über die Versorgung Schwerverletzter. „Wir haben damals erste Analysen gemacht und herausgefunden, dass 33 Prozent der bei uns eingelieferten Schwerstverletzen sterben“, erklärt Prof. Dr. Bertil Bouillon, Lehrstuhlinhaber für Unfallchirurgie an der Universität Witten/Herdecke. „Was vor allem fehlte, waren verlässliche Instrumente zur Einschätzung der Verletzungsschwere, um Mediziner bei ihren täglichen Entscheidungsfindungen über weitere Behandlungsschritte zu unterstützen.“

Mortalitätsquote mehr als halbiert

1993 schlossen sich neben Köln-Merheim die Uni-Kliniken München, Essen, Hannover und das Krankenhaus Celle zu einer Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie zusammen und entwickelten ein zunächst nationales Traumaregister. Analog dem Krebsregister wurde eine prospektive Datenbank zur systematischen Erfassung der Versorgung von Schwerstverletzten vom Unfallort bis in die Rehabilitation entwickelt. Durch Analyse der Ergebnisse können Schachstellen identifiziert und verbesserte Konzepte erarbeitet, umgesetzt und wieder überprüft werden. Inzwischen sind in dieser weltweit einzigartigen Datenbank die Fälle von insgesamt mehr als 20.000 Schwerverletzen aus mehr als 100 Kliniken aus Deutschland, Schweiz, Österreich und den Niederlanden dokumentiert und ausgewertet worden. In Köln-Merheim konnte Dank des medizinischen Fortschritts und eines besseren Notfallmanagements die Mortalitätsrate von Unfallopfern in den letzten 20 Jahren von 33 auf 16 Prozent reduziert werden.

Mit Hilfe des Traumaregisters lassen sich aber auch größere wissenschaftliche Untersuchungen durchführen. Bouillon: „Das Traumaregister hat uns z.B. erst wieder die Bedeutung der Gerinnungsstörung für die Überlebensprognose vor Augen geführt.“ Dementsprechend arbeiten Ärzte und Wissenschaftler in Köln-Merheim und anderswo daran, Gerinnungsstörungen schon sehr früh zu erkennen und optimal zu behandeln, um die Überlebenswahrscheinlichkeit weiter zu erhöhen. Zu diesem Thema wurde in der vergangenen Woche eine große internationale Studie gestartet, an der Köln-Merheim als eine der ersten Kliniken teilnimmt.

Bouillon: Wir haben die Langzeitfolgen im Blick

Doch nicht nur in der akuten Erstversorgung machen sich die Erkenntnisse aus dem Traumaregister positiv bemerkbar: „Uns ist an einer ganzheitlichen Betrachtungsweise gelegen. Wir begleiten den Unfallpatienten vom Unfallort bis zur Rehabilitation.“, erklärt Chefarzt Bouillon. Warum? „Uns interessiert auch die Lebensqualität der Patienten, die ihren schweren Unfall überlebt haben.“ Darum verfügt das Traumaregister auch über einen so genannten Lebensqualitätsindex, der zwei Jahre nach Entlassung aus der Klinik gemessen wird. Dabei geht es auch um die psychische Situation, spezifische Symptome wie Schmerzen und die Frage, wie der Patient in seinem Alltagsleben wieder zurecht kommt: „Uns interessiert, wie sich unser Notfallmanagement langfristig ausgewirkt hat und was wir mit Blick auf mögliche Langzeitfolgen auch in der Akutversorgung noch verbessern können“, so Bouillon.

Ein Beispiel: Ein Taxifahrer wurde nach einem Verkehrsunfall mit schwerstem Schädel-Hirn-Trauma in Köln-Merheim eingeliefert. In der Erstversorgung konzentrierten sich die Ärzte zunächst auf die Versorgung dieser Primärverletzung. Weitere, vermeintlich weniger bedeutende Verletzungen des Beines und des Fußes standen zunächst im Hintergrund. Der Mann konnte gerettet werden, war aber aufgrund der verzögert erkannten und behandelten Fußverletzung danach nicht mehr in der Lage, Taxi zu fahren. Die Konsequenz aus solchen und anderen Fällen, die im Traumaregister dokumentiert sind: Heute wird im Klinikum-Merheim bei der Erstversorgung besonders auch auf zunächst sekundäre Verletzungen geachtet, weil sie im späteren Leben des Patienten zu einer massiven Beeinträchtigung der Lebensqualität führen können.

Jeder Euro in der Akutbehandlung erspart der Gesellschaft hohe Kosten

Von welch zentraler Bedeutung – auch ökonomisch – eine möglichst optimale Erstversorgung nach der Einlieferung ist, zeigt eine Studie aus der Schweiz: 70 Prozent der Versorgungskosten bei einem Schwerverletzen entstehen nicht im Krankenhaus, sondern in den Jahren danach – etwa durch Arbeitsunfähigkeit und Kosten für die weitere Behandlung: „Fehler, die in den ersten Minuten nach der Einlieferung gemacht werden, können unter Umständen gesellschaftliche Kosten in Millionenhöhe nach sich ziehen“, so Bouillon. Nur fünf Prozent der Kosten gehen auf das Konto der Akutbehandlung. Für Bouillon lässt dies nur einen Schluss zu: „Jeden Euro, den wir in eine Verbesserung der Akutbehandlung, in die Ausbildung und ein besseres Notfallmanagement am Unfallort und im Schockraum investieren, hilft dem Patienten und erspart der Gesellschaft später hohe Kosten.“

Wissenschaftliche Referenzen:

1. Maegele M, Bouillon B, u.a.: The long-distance tertiary air transfer and care of tsunami victims: injury pattern and microbiological and psychological aspects. Crit Care Med 33: 1136-1140, 2005

2. Bouillon B, u.a.: Die Bedeutung des Advanced Trauma Life Support (ATLS) im Schockraum. Unfallchirurg 107: 844-850, 2004 3. Ruchholtz S, AG Polytrauma der DGU (Bouillon B, Kanz KG, u.a.):

Das externe Qualitätsmanagement in der klinischen Schwerverletztenversorgung. Unfallchirurg 107: 835-843, 2004

4. Pirente N; Bouillon B; u.a.: Systematische Entwicklung eines Messinstruments zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität beim polytraumatisierten Patienten. Die Polytrauma-Outcome-(POLO-)Chart. Unfallchirurg 105: 413-422, 2002

Kontakt: Prof. Dr. Bertil Bouillon, Tel.: 0221/8907-3276, Mail: bouillonb@kliniken-koeln.de, Internet: www.dgu-online.de

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Dr. Olaf Kaltenborn Universität Witten/Herdecke

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