Wenn Schlaflieder nicht mehr helfen

Die Schreisprechstunde der Universitätskinderklinik unterstützt verzweifelte Eltern


Jedes Baby schreit gelegentlich. Immerhin hat es nur wenige Möglichkeiten seinen Unmut auszudrücken. Aber bis zu einem Viertel aller Kinder in den ersten drei Lebensjahren fällt durch nahezu unstillbares Schreien auf, andere durch chronische Unruhe, Schlaf- und Fütterungsstörungen und exzessives Trotzen. Das bringt die Eltern zur Verzweiflung. Auswege weist die von Peter Hiermann geleitete Schreisprechstunde an der Universitätsklinik und Poliklinik für Kinder und Jugendliche der Universität Leipzig.

Auf dem Schreibtisch von Peter Hiermann, Psychologe an der Uni-Kinderklinik, liegt ein Brief und dazu ein Foto, auf dem eine Mutti mit ihrem lachenden Töchterchen spielt. Dazu ein paar Zeilen mit dem Dankeschön dafür, dass die Kleine jetzt „ein richtig fröhliches Baby“ ist.

Ehe dieses Aufatmen kommen kann, müssen sich die meisten der Familien erst einmal durchringen, zu bekennen: „Wir halten das nicht mehr aus!“ Wann aber sollte man Hilfe suchen, wann ist ein schreiendes Kind ein Schreikind? „In dem Moment, wo die Eltern das Problem als solches wahrnehmen. Das kann bei dem einen früher, beim anderen später beginnen. Wir schicken niemanden weg, sondern nehmen seine Verzweiflung ernst.“ Aber es gibt eine Faustregel: Wenn ein Kind mehr als drei Wochen lang, an drei Tagen pro Woche mehr als drei Stunden schreit, spätestens dann ist Eingreifen angesagt. Ähnliche Kriterien gibt es für Kinder mit Schlaf- oder Fütterungsproblemen. Denn ein unruhiger Säugling oder ein extrem trotzendes Kleinkind sind wahnsinnig anstrengend für ihre Umgebung und bergen viel Konfliktpotential. Daraus entsteht eine gefährliche Spirale der negativen Gegenseitigkeit. Der Säugling ist unzugänglich, schreit, wendet den Blick ab, schläft nicht. Und bei den Eltern wachsen Verunsicherung, Selbstzweifel, Erschöpfung und letztlich Depression.

Zu welchen „Tricks“ greift Hiermann, um die Schreihälse zu beruhigen? Zuerst einmal wird der kleine Patient von einem Kinderarzt gründlich untersucht, wodurch körperliche Ursachen ausgeschlossen werden sollen. Aber die meisten der Babys sind völlig gesund. Die oftmals als Drei-Monats-Koliken bezeichneten Verdauungsstörungen spielen eine geringere Rolle als angenommen. Auch die Art der Geburt ist nebensächlich.

„Das Problem hat zumeist eine vielschichtige Entstehungsgeschichte Einfache Erklärungen greifen hier zu kurz. Es gilt, sich gemeinsam mit den Eltern auf die Suche zu machen. Verlief die Schwangerschaft sehr stressig? Wohnt die Familie sehr beengt? Sind die Eltern in der Lage, die Verhaltensweisen und Eigenschaften ihres Kindes und die Signale, die es sendet, richtig zu deuten? Überschätzen sie die Fähigkeit des Winzlinges absichtlich zu handeln? In welcher Rolle sehen sie sich selbst dabei? Welche Emotionen und eventuell Kindheitserinnerungen weckt das Geschrei des eigenen Nachwuchses? Ist die Mutter durch Abwesenheit des Vaters überfordert? Fühlt sie sich durch das Eingreifen der Großeltern bedrängt? Natürlich hat jeder Mensch – und auch jedes Baby – ein anders Temperament, auch das spielt eine Rolle. Es gibt vieles worüber wir miteinander reden.“

Aber nicht nur das Verhältnis der Eltern untereinander und zu ihrem Kind wird während der Sprechstunde besprochen. Die Ratsuchenden gehen auch mit ganz praktischen Tipps nach Hause. Die beginnen bei Hinweisen zum Umgang mit dem Säugling beispielsweise beim Stillen oder Füttern, reichen vom Überdenken des Tagesablaufs bis hin zur Anregungen, die das Schlafengehen betreffen. „Aber letztlich wollen wir die Eltern nicht mit Anweisungen heimschicken, sondern ihnen Anregungen zur Selbsthilfe geben“, betont Hiermann.

Die Schlussfolgerungen, die das Team der Schreisprechstunden an der Universitätsklinik aus der Zusammenfassung ihrer Arbeitsergebnisse zog und publizierte, gehen in verschiedene Richtungen: „Zum einen stützen unsere erhobenen Daten die Annahme, dass Maßnahmen in der frühen Kindheit schnell und wirkungsvoll helfen. Bei zwei Dritteln aller Fälle besserten sich die Probleme schon nach ein bis zwei Besuchen oder verschwanden ganz. Sorgen machen uns allerdings jene reichlich 20 Prozent, bei denen wir nichts erreichen konnten. Das waren zumeist psychosozial mehrfach belastete Familien, für die schon die Anbindung an so eine Sprechstunde ein Problem darstellt. Hier muss nach Wegen gesucht werden, diesen Familien beispielsweise durch Hausbesuche entgegenzukommen.“

Doch die Überlegungen gehen noch weiter: In den USA haben Förderprogramme im Vorschulalter für psychosozial benachteiligte Familien beachtliche Langzeiteffekte bewiesen. Die Kinder erreichen – im Gegensatz zu denen aus Familien ohne Beratung – höhere Schulabschlüsse und ein besseres Einkommen, werden seltener straffällig und müssen seltener zum Arzt. „Insofern sollte die Gesellschaft über dieses Problem intensiver nachdenken“, meint Hiermann. „Und selbst wenn man kürzer greift und nur den Blickwinkel der Krankenkassen einnimmt, bleibt die Frage wieviel weniger Notarztbesucher für die Kinder und wieviel weniger Psychopharmaka für die Eltern anfallen. Weiterhin wissen wir, dass Mütter mit niedrigem sozialen Status und irritablen Säuglingen durch Beratung feinfühliger mit ihrem Kind umgehen und das Bindungsverhalten beim Kind sich nachhaltig verbessert Weiterer Aspekte, der untersucht werden müssten, sind die Zusammenhänge von Schwierigkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter mit Vernachlässigungen oder Misshandlungen. Wenn eine verzweifelte Mutter ihr Baby zum Beispiel schüttelt, kann das dramatische Behinderungen oder gar den Tod zur Folge haben.“

Um sich in der Schreisprechstunde der Universitätskinderklinik beraten zu lassen, benötigt man eine Überweisung des Haus- oder Kinderarztes. Für die Familie ist die Behandlung kostenfrei. Telefonische Anmeldung unter: 0341/ 97 26 242. Marlis Heinz

Weitere Informationen:
Peter Hiermann
Telefon: 0341 97-26207
E-Mail: peter.hiermann@medizin.uni-leipzig.de

Media Contact

Dr. Bärbel Adams idw

Weitere Informationen:

http://www.uni-leipzig.de/~kikli

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