Ist der "Zappelphilipp" von heute der Suchtkranke von morgen?

„Was für ein Zappelphilipp!“ So urteilt der Volksmund über Kinder, die hyperaktiv sind und sich kaum konzentrieren können. Mediziner dagegen sprechen in diesem Fall vom „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom“, kurz ADHS. Diese Störung wird an der Uni Würzburg von einer neuen Klinischen Forschergruppe untersucht. Sprecher ist Professor Klaus-Peter Lesch aus der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie.

Typische Symptome von ADHS sind Unruhe, Ablenkbarkeit, Unaufmerksamkeit, Ungeduld, exzessives Sprechen und häufiges Unterbrechen anderer, spezifische Lern- und Leistungsstörungen sowie eine Neigung zu lebensgefährlichen Aktivitäten. Oft finden sich auch ausgeprägte Störungen des Sozialverhaltens, Angst, Depressivität und ein früher Konsum von Suchtmitteln.

Betroffen sind drei bis acht Prozent aller Schulkinder, Jungen fünfmal häufiger als Mädchen. Die Kardinalsymptome können in den einzelnen Altersstufen unterschiedlich ausgeprägt sein und bestehen teilweise im Erwachsenenalter fort. „Eine Diagnose ist nicht immer sicher zu stellen, vor allem dann, wenn keine Angaben zur Entwicklung der Kinder vorliegen“, so Lesch. Zunehmend gebe es Hinweise, dass 20 bis 30 Prozent der ADHS-Kinder auch als Erwachsene unter den Symptomen leiden und dann häufiger von Suchtmitteln abhängig sind.

Das ADHS hat in jüngster Zeit viel Aufmerksamkeit erregt. Insbesondere die medikamentösen Therapieansätze mit Stimulanzien werden kontrovers diskutiert, vor allem die Verwendung von Methylphenidat (Ritalin). Paradoxerweise wirken solche Stimulanzien auf hyperaktive Kinder nicht antriebssteigernd, sondern beruhigend. Umstritten ist auch das Ergebnis einer Studie des US-Bundesinstituts für psychische Gesundheit (National Institute of Mental Health): Ihr zufolge können psychotherapeutische Verfahren die Wirkung der Medikamente nicht deutlich steigern. „Zudem ergab sich bei zwei methodisch anspruchsvollen Studien an jugendlichen und erwachsenen ADHS-Patienten, dass diejenigen, die früher mit Stimulanzien behandelt wurden, später signifikant weniger Nikotin und illegale Drogen konsumierten“, erläutert Lesch.

Die Gesamtkosten für die Behandlung von ADHS werden in Deutschland auf bis zu 2,5 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Hinzu kommen unter anderem Folgekosten für die Behandlung von Suchterkrankungen. Klärungsbedarf besteht nicht nur hinsichtlich Früherkennung, Therapie und Suchtprävention. Auch die Entstehung des ADHS und die Gründe für die unterschiedlichen klinischen Verläufe sind weitgehend ungelöst. Obwohl man einige Risikofaktoren kennt – zum Beispiel Nikotinmissbrauch der Mutter während der Schwangerschaft oder ein niedriges Geburtsgewicht – scheint für das Ausbrechen der Störung eine genetische Veranlagung ausschlaggebend zu sein, wie Professor Lesch sagt.

Die neue Forschergruppe ist eine gemeinsame Einrichtung der Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie sowie der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Beteiligt sind neben Professor Lesch die Wissenschaftler Jobst Böning, Andreas Fallgatter, Edna Grünblatt, Christian Jacob, Andreas Reif, Peter Riederer und Armin Schmidtke (Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie), Andreas Warnke, Christoph Wewetzer, Susanne Walitza und Manfred Gerlach (Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie), Paul Pauli, Ronald Mucha und Peter Weyers (Institut für Psychologie), Andreas Karschin (Physiologie) und Laszlo Solymosi (Neuroradiologie).

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat die Einrichtung der Klinischen Forschergruppe im Dezember bewilligt. Sie fördert das Gesamtprojekt in den kommenden drei Jahren mit insgesamt 1,1 Millionen Euro. Mit dieser Fördermaßnahme will die DFG Grundlagenforschung und klinische Anwendung miteinander vernetzen und forschungsorientierte Strukturen an den Universitätskliniken stärken.

Weitere Informationen: Prof. Dr. Klaus-Peter Lesch, T (0931) 201-77600, Fax (0931) 201-77620, E-Mail: kplesch@mail.uni-wuerzburg.de

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Robert Emmerich idw

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