UKE: Weltweit einzigartiges Simulationsmodell für die Mittelohrchirurgie vorgestellt

Die Entwicklung des Instituts für Medizinische Informatik ermöglicht das risikolose Training komplizierter Operationen

Wie ein Kugelschreiber liegt der Griff des Bohrers in der Hand; das Gerät vibriert und surrt. Als es auf das Felsenbein trifft, ändern sich Geräusch und Widerstand. Wie der Maler mit dem Pinsel „wischt“ der Operateur vorsichtig mit dem Bohrer über diesen Teil des Schläfenbeins. Schicht für Schicht wird abgetragen. Dann macht der Chirurg am Bildschirm einem anderen Platz. Dieser macht alles falsch und bohrt in Sekundenschnelle ein tiefes Loch in den Knochen. Der Bohrer verkantet, und der Patient wäre jetzt vermutlich taub. Aber es gibt keinen Patienten. Es gibt nur einen Gelenkarm, eine Art „Gaspedal“, eine 3-D-Brille, einen speziellen Rechner und ein ausgeklügeltes Computerprogramm des Instituts für Medizinische Informatik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE).

Aufbauend auf der ebenfalls dort entwickelten VOXEL-MAN-Software hat das Team um Professor Dr. Karl Heinz Höhne in sechsjähriger Arbeit eine stereoskopische Simulation am 3-D-Computermodell für die Mittelohrchirurgie geschaffen. Damit können angehende Fachärzte die hochkomplizierten Eingriffe zum Beispiel zur Entfernung von Tumoren oder chronischen Entzündungen beziehungsweise zum Einsatz von Hörimplantaten unter Anleitung üben.

Die größte Schwierigkeit für den Arzt besteht bei solchen Operationen darin, die in den Knochen eingebetteten empfindlichen Organe des Felsenbeines nicht zu verletzen: die Gesichtsnerven, die Schnecke, die Bogengänge und die Gehörknöchelchen. „Deshalb müssen angehende HNO-Ärzte erst ungefähr 40 Felsenbeine fräsen, ehe sie mal den Hautschnitt machen dürfen. Und selbst erfahrene Fachärzte müssen vor seltenen Eingriffen oft noch einmal zum Üben“, erläutert Professor Dr. Rudolf Leuwer, Oberarzt in der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde des UKE. Um höchste Qualität zu sichern, werden deshalb auch die rund 700 Ohreingriffe, die pro Jahr in der Klinik vorgenommen werden, nur von wenigen Ärzten durchgeführt. Für das Training stehen menschliche Felsenbeine jedoch nur begrenzt zur Verfügung (bei OP-Kursen in den USA müssen pro Felsenbein 500 Dollar gezahlt werden).

Mit der Neuentwicklung aus dem UKE kann der angehende HNO-Arzt nicht nur wirklichkeitsgetreu sehen, was er tut, sondern auch hören und fühlen. Auch Blickrichtung und Arbeitshaltung entsprechen denen bei einer echten Operation. Darüber hinaus können Arbeitsschritte wiederholt werden, und Beobachter können das Geschehen im Knochen mitverfolgen – was beim Üben an menschlichen Felsenbeinen oder Keramiken nicht möglich ist.

Das Entwicklerteam hat sich nämlich entschieden, den Operateur nicht durch eine stereoskopische Brille sehen zu lassen, die das binokulare Mikroskop bei einem echten Eingriff simuliert. Stattdessen erscheint das Bild in einer Vergrößerung von 1:16 auf einem Stereoskop-Display. Der Proband trägt dabei eine so genannte Shutterbrille. Der Gelenkarm mit dem Bohrergriff arbeitet ohne Getriebe, nur mit einem Kraftübersetzer; der gefühlte Widerstand wird mit einem Motor erzeugt. Der virtuelle Bohrer wird – wie eine Nähmaschine und wie im echten OP-Betrieb – mit einem Pedal „angetrieben“.

Auf dem Gebiet der bildlichen 3-D-Darstellungen ist das Institut für Medizinische Informatik seit Jahrzehnten führend. Mit dem Projekt einer so genannten taktilen oder haptischen Simulation, die Berührung vortäuscht, hat das Team um Professor Höhne jedoch Neuland betreten. Und auch dabei leistet das Institut wieder Pionierarbeit, denn es existieren zwar bereits ähnliche Simulationsmodelle, diese konzentrieren sich jedoch auf die elastische Verformung von Weichteilgewebe; an die Simulation von Bohr- und Fräsvorgängen an festen Knochenstrukturen werden aber völlig andere Anforderungen gestellt.

Diplom-Informatiker Bernhard Pflesser musste zum Beispiel die groben computertomographischen Daten, die der Software zugrundeliegen, zunächst so bearbeiten, dass eine genügend große Bildauflösung erzielt werden konnte: So entstanden keine „pixeligen“ Kanten, und die virtuellen Oberflächen fühlen sich glatt an. Sehr aufwändig gestaltete sich auch die Entwicklung von Berechnungsverfahren für die haptische Simulation der Kräfte beim Bohren. Diplom-Informatiker Andreas Petersik hat die virtuellen Werkzeuge dazu mit mehreren so genannten „Sample Points“ zur passiven und aktiven Kollisionserkennung und -berechnung versehen. Je größer der Durchmesser des virtuellen Bohrers ist, desto langsamer wird allerdings die Darstellung. Daher haben sich die Forscher für „Instrumente“ mit einem Durchmesser von zwei bis vier Millimetern entschieden. Diese entsprechen den auch in der Realität gebräuchlichsten Werkzeugen. Professor Leuwer stand den Institutsmitarbeitern mit seiner ohrchirurgischen Expertise zur Seite, damit das gesamte „Feeling“ sowie die Bohrertöne und -vibrationen stimmen.

Am Ende der Entwicklung soll der „Operateur“ zwischen fünf verschiedenen Felsenbeinen wählen können. Es hat sich auch bereits eine Firma gefunden, die die Simulationsanlage vermarkten möchte. Mit über 15 000 Euro liegen die Kosten für den Gelenkarm jedoch noch recht hoch – allerdings nicht höher als die Kosten für ein Felsenbein-Labor.

Die Simulation von ohrchirurgischen Eingriffen ist übrigens erst der Anfang: Ein ähnliches Projekt des Instituts zur Simulation der Entfernung von Entzündungen an Zahnwurzeln in der Kieferchirurgie befindet sich in Zusammenarbeit mit der Klinik für Zahn-, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie des UKE bereits in der Entwicklung.

Von Julia Beuerlein

Für Journalisten: Weitere Informationen erteilt gern:
Prof. Dr. Karl Heinz Höhne, Tel.: 040/42803-3652, E-Mail: hoehne@uke.uni-hamburg.de

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Dr. Marion Schafft idw

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