Neuer Therapieansatz gegen Nervenschmerzen

Zahnschmerzen sind grauenhaft – doch sie gehen vorüber. Wenn sich die Schmerzen aber von der Grunderkrankung lösen, dann schickt das für die Schmerzleitung zuständige System dauerhaft Schmerzimpulse zum Gehirn. Den Teufelskreis der Nervenschmerzen durchbrechen jetzt Bochumer Schmerzforscher: Im aktuellen Wissenschaftsmagazin RUBIN präsentieren Prof. Dr. Christoph Maier (Klinik für Schmerztherapie) und Prof. Dr. Martin Tegenthoff (Klinik für Neurologie), Klinikum der Ruhr-Universität Bochum, Bergmannsheil, in enger Kooperation mit PD Dr. Hubert Dinse (Institut für Neuroinformatik) ihr erfolgreiches Therapiekonzept.

Nerven- oder sog. neuropathische Schmerzen beruhen auf Veränderungen im peripheren und zentralen Nervensystem, doch die genauen Erkrankungsmuster waren bisher unbekannt. Eine gezielte Therapie vor allem mit Medikamenten setzt jedoch die Kenntnis der Schmerzursache, d.h. der veränderten Schmerzverarbeitung im Organismus voraus. Für die Reizleitung sind jeweils spezielle Nervenfasern zuständig. Den Forschern kam zugute, dass Schmerz- und Temperaturreize die gleichen Wege nutzen: Eine speziell entwickelte Thermotestung lieferte daher über die Temperaturenpfindlichkeit bei einer Gruppe von 200 Patienten Informationen zu den Schmerzursachen. Nervenschmerzen, die auf einer veränderten Reizleitung beruhen ließen sich von jenen unterscheiden, deren Ursache degenerierte Nozizeptoren (Nervenendigungen, die Schmerzreize registrieren) sind. Die Methode könnte zukünftig vielleicht auch der Frühdiagnostik von Nervenschmerzen dienen.

Starke Schmerzen fördern „Schmerzgedächtnis“

Lang andauernde und besonders starke Reize fördern die Entwicklung hin zu chronischen Schmerzen, indem immer mehr Strukturen des Zentralen Nervensystems in Gehirn und Rückenmark aktiviert werden. Ein „Schmerzgedächtnis“ bildet sich aus. Bei der Nachuntersuchung von mehr als 800 operierten Patienten – der weltweit umfassendsten Studie auf diesem Gebiet – stellten die Forscher fest, dass starke Schmerzen vor und nach der Operation die Gefahr chronischer Folgeschmerzen in den nächsten sechs bis zwölf Monaten fast verdreifachen. Das betraf immerhin 10 bis 25 Prozent der Operierten. Der Teufelskreis schließt sich, wenn sich bei chronischer Reizung das körpereigene schmerzunterdrückende System erschöpft.

Plastizität des Gehirns bei Berührungsschmerz nutzen

Nervenschmerzen äußern sich häufig in einer extremen Berührungsempfindlichkeit: Patienten halten mitunter die Berührung mit einem Kleidungsstück ebenso wenig aus wie einen Luftzug. Normalerweise bilden sich Tastreize z.B. auf der Handoberfläche quasi analog auf der Hirnrinde ab – man spricht von „Körperlandkarten“ im Gehirn. Die Forscher wiesen erstmals nach, dass sich bei Patienten mit Nervenschmerzen die Körperwahrnehmung verändert: Je stärker ein Berührungsschmerz, desto kleiner wurde das die Hand „fühlende“ Areal im Gehirn. Hoffnungsvoll ist aber, dass sich diese Veränderungen durch gezielte Schmerztherapie und intensives Training umkehren lassen. Aktives und passives Training bestätigen die mittels Hirnstrommessungen und funktioneller Kernspintomographie nachgewiesenen Veränderungen im Gehirn. Für das aktive Training setzen Neuroinformatiker die sog. Zwei-Punkt-Diskrimination ein: Dabei muss der Patienten zwei dünne Metallspitzen tasten, deren Abstand voneinander immer geringer wird. Der kleinste Abstand, bei dem noch zwei Spitzen getastet werden, ist Ausdruck der individuellen Diskriminationsfähigkeit. Beim passiven Training stimulieren genau definierte elektrische Reize die entsprechenden Bereiche an den Fingerspitzen.

Der Bochumer Therapie-Ansatz

In der Bochumer Schmerzklinik wird das taktile und manuelle Training inzwischen erfolgreich bei Patienten mit Morbus Sudeck – einer Nerven- und Gelenkerkrankung mit extremer Berührungsempfindlichkeit und ausgeprägten psychischen Begleiterscheinungen – umgesetzt. Sobald die eigentliche Schmerztherapie wirkt, trainieren sich die Patienten stufenweise und systematisch ihre Überempfindlichkeit ab, indem sie zunächst sensibel reizende Materialien wie Erbsen, Reis, Rapskörner oder Sand berühren und später z.B. mit Pinsel und Farbe malen. Es folgt ein passives Training durch elektrische Reizung über auf die Haut aufgeklebte Elektroden (TENS-Therapie) und schließlich ein spezielles feinmotorisches Training. Die bisherigen Erfahrungen sprechen dafür, dass durch ein noch früheres systematisches aktives und passives Lern-Training nicht nur der Therapieerfolg verbessert wird, sondern sich möglicherweise auch chronische Schmerzen verhindern lassen.

Weitere Informationen

Prof. Dr. Christoph Maier, Klinik der Abteilung für Schmerztherapie, Klinikum der Ruhr-Universität Bochum, Bergmannsheil, Tel.: 0234/302-6366, EMail: christoph.maier@ruhr-uni-bochum.de

Themen in RUBIN 1/2003

Weiter Themen in RUBIN: Zur Situation im Irak (Gastkommentar von Peter Scholl-Latour); Humanitäre Hilfe im Schatten des Regimewechsels im Irak; Glückliche Maschinen – eine philosophische Betrachtung zu den Maschinen des Künstlers Jean Tinguely; Faszination Diamant: Zauber und Geschichte eines Edelsteins; Das kindliche Gehirn schützen, Nervenzellen ersetzen; Formgedächtnislegierungen – Metalle erinnern sich; „Cat Walk“ und Westernheld – was Bewegung ausdrückt; Kanal voll: Wenn Bäume in Rohren Wurzeln schlagen; News. RUBIN ist in der Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum zum Preis von 2,50 Euro erhältlich.

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Dr. Josef König idw

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