Erkenntnisse aus der Hirnforschung: Placeboeffekte gegen chronische Schmerzen nutzen

Dass Placeboeffekte Patienten nicht als Simulanten entlarven, beweisen neue Erkenntnisse aus der Hirnforschung über physiologische und biochemische Abläufe bei diesen Effekten. So lassen sich die Auswirkungen eines Placebos gegen Schmerz z. B. im Endorphinsystem des Gehirns beobachten.

„Diese Tablette wird die Schmerzen im Ihrem Arm lindern“, sagt der Arzt, und er behält Recht: Der Patient verspürt nach kurzer Zeit eine deutliche Besserung seiner Beschwerden. Dass die Tablette keinerlei medizinische Wirkstoffe enthält, spielt dabei keine Rolle, solange der Patient davon nichts weiß. „Dieser Placeboeffekt entlarvt Patienten jedoch keineswegs als Simulanten: Die Hirnforschung der letzten Jahre hat hochinteressante neue Erkenntnisse über physiologische und biochemische Abläufe beim Placeboeffekt gebracht, die es uns erlauben ihn gezielt zu nutzen“, so Dipl.-Psych. Dr. Claus Derra bei einer interdisziplinären Schmerzkonferenz, die die Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e. V. (DGSS) und das Schmerzforum Rhein-Main e.V. gemeinsam in Frankfurt veranstalteten. So lassen sich die Auswirkungen eines Placebos gegen Schmerz z. B. im Endorphinsystem des Gehirns beobachten.

Alte Vorurteile …

Placeboeffekte, die in unterschiedlicher Intensität bei jeder therapeutischen Handlung auftreten, sind bei der Schmerzbehandlung besonders ausgeprägt: Vertraut der Patient dem Arzt und ist davon überzeugt, dass ein Medikament, eine Spritze oder andere Anwendung wirksam sein wird, können seine Schmerzen schneller und effektiver vermindert werden. Da der Placeboeffekt jedoch im wesentlichen durch die Erwartung entsteht, die ein Patient mit einer ärztlichen Handlung verbindet, ist er schwer messbar und oft erst im Nachhinein beurteilbar. Die Anwendung solcher Effekte ist daher mit einer Reihe von Fehleinschätzungen und Vorurteilen behaftet. „Eine weitgehend auf solchen Vorurteilen beruhende Unsitte ist es, dass Placebos z.B. immer wieder eingesetzt wurden, um eine Schmerzsymptomatik als psychisch bedingt zu diagnostizieren: Wirkt das Placebo schmerzlindernd, wird die Symptomatik fälschlicherweise als zumindest wesentlich psychisch mitbedingt ’entlarvt’, der Patient nicht selten sogar als Simulant angesehen“ so Dr. Derra.

… und neue Erkenntnisse

Die Hirnforschung brachte jetzt hochinteressante neue Erkenntnisse über physiologische und biochemische Abläufe und deren Zusammenhang mit Stimmungen und Denkmustern, sodass man nun gute Vorstellungen über Wirkaspekte von Placeboeffekten und ihre Ursachen hat. Grundvoraussetzung für einen Placeboeffekt ist, dass beim Patienten bewusst die Erwartung einer Schmerzlinderung entsteht. Die weitere zentrale Verarbeitung unseres Denkens und Fühlens können die Forscher heute eindeutig bestimmten Hirnarealen (limbisches System) zuordnen, die auch bei Stress- und Schmerzverarbeitung eine wesentliche Rolle spielen. Hier erklärt sich einerseits, warum Ablenkung, Erwartungen, Suggestion, Stressfaktoren, Entspannung u.ä. schmerzlindernd oder -verstärkend wirken. Andererseits finden sich in diesen Zentren u. a. Verbindungen zum körpereigenen Opiatsystem, dem Endorphinsystem: Seelische Verarbeitung wird hier in biochemische Wirkungen umgesetzt. Da sich die schmerzlindernde Wirkung von Placebos durch den Opiatgegenspieler Naloxon blockieren lässt, muss ein wesentlicher Wirkmechanismus von Placeboeffekten bei Schmerz über das Endorphinsystem erfolgen.

Eine Pille – viele Wirkungen

Vergleichsuntersuchungen haben gezeigt, dass Placeboeffekte bei verschiedenen Symptomen (z.B. Schmerz, Bluthochdruck, Parkinson) über unterschiedliche Nervenzentren vermittelt werden.. In einer aktuellen Studie löste eine grüne Traubenzuckertablette mit der Instruktion „dies wird ihre Schmerzen im Arm lindern“ über das Endorphinsystem eine entsprechende Wirkung aus. Die gleiche Tablette bewirkte bei einem Parkinsonpatienten („dies wird die Beweglichkeit Ihres Armes verbessern“) eine deutliche Besserung seiner Parkinsonsymptomatik. Diesmal wirkte die Instruktion auf das Dopaminsystem.

Weißgrün wirkt am besten gegen Schmerz

Das Ausmaß der Schmerzlinderung wird durch verschiedene Faktoren bestimmt: Größere Pillen wirken besser als kleinere, Kapseln besser als Tabletten, noch besser wiederum wirken Pflaster und Sprit-zen. Blaue Präparate wirken beruhigend, gelbe stimulierend, weißgrüne besonders schmerzlindernd, Medikamente mit spürbaren Nebenwirkungen haben auch eine höhere Wirksamkeit. Besonders hohe Placeboeffekte lassen sich mit technischen oder invasiven Maßnahmen erzielen (z.B. Akupunktur). Auch Operationen sind nach einer schwedischen Studie an mehreren tausend Bandscheibenoperierten sehr wirksam – als Placebo. Persönlichkeitsfaktoren des Patienten spielen zwar auch eine Rolle – z. B. sprechen ängstliche Menschen besonders gut an. „Sie wurden jedoch bisher grundsätzlich überschätzt: Es gibt keine ’placeboanfällige’ Persönlichkeit!“, betont Dr. Derra. Wichtigster Faktor für die Placebowirkung ist der Behandler: Ein empathischer, optimistischer Arzt, der eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung herstellen kann, von seiner Behandlungsstrategie überzeugt ist und gute Aufklärung leistet, kann nicht nur beim Patienten subjektiv, sondern auch objektivierbar erstaunliche Effekte erzielen (z.B. Reduzierung des Analgetikabedarfes, Verkürzung von Krankenhausaufenthalten). Interessanterweise haben Ärzte eine deutlich höhere Placebowirkung als das Pflegepersonal.

Placeboeffekt unterstützend einsetzen

Die hohe Placeborate bei Schmerz (teilweise über 50 Prozent der Wirkung) bezieht sich auf alle Schmerzursachen, vom psychogenen bis zum Tumorschmerz. Es muss allerdings eine gewisse zentrale Verarbeitung des Schmerzerlebens stattgefunden haben. Plötzliche Schmerzen wie etwa Clusterkopfschmerz haben deutlich geringere Placeboresponse. „In Anbetracht des heutigen Wissensstandes wären Schmerztherapeuten gut beraten, Placeboeffekte intensiver und gezielter zur Behandlung besonders bei chronischen Schmerzen zu nutzen“, so Dr. Derra. Die Möglichkeit, medizinische und psychotherapeutische Interventionen durch unspezifische Maßnahmen zu verstärken, könne nicht nur zu höherer Patientenzufriedenheit führen, sondern auch die Arzt-Patient-Beziehung stärken und dadurch in Chronifizierungsprozesse positiv eingreifen. „Der heimliche Einsatz von Placebos anstatt einer spezifisch wirksamen Therapie ist jedoch abzulehnen“, so Dr. Derra: „Die Vertrauensbasis zum Patienten ist die wichtigste Grundlage der Therapie.“

Ansprechpartner

Dr. med. Dipl. Psych. Claus Derra
Klinik Taubertal der BfA
Ketterberg 2, 79980 Bad Mergentheim
Tel. 07931 – 591-0
E-Mail: derra@gmx.de

Prof. Dr. Michael Zenz
Präsident der Deutschen Gesellschaft
zum Studium des Schmerzes e. V. (DGSS)
Universitätsklinik für Anästhesiologie
Intensivmedizin und Schmerztherapie
Knappschaftskrankenhaus Bochum-Langendreer
In der Schornau 23-25, 44892 Bochum
Tel 0234 – 2993000, Fax 0234 – 2993009
E-Mail: Zenz@anaesthesia.de

Media Contact

Meike Drießen idw

Weitere Informationen:

http://www.dgss.org

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Medizin Gesundheit

Dieser Fachbereich fasst die Vielzahl der medizinischen Fachrichtungen aus dem Bereich der Humanmedizin zusammen.

Unter anderem finden Sie hier Berichte aus den Teilbereichen: Anästhesiologie, Anatomie, Chirurgie, Humangenetik, Hygiene und Umweltmedizin, Innere Medizin, Neurologie, Pharmakologie, Physiologie, Urologie oder Zahnmedizin.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

KI-basierte Software in der Mammographie

Eine neue Software unterstützt Medizinerinnen und Mediziner, Brustkrebs im frühen Stadium zu entdecken. // Die KI-basierte Mammographie steht allen Patientinnen zur Verfügung und erhöht ihre Überlebenschance. Am Universitätsklinikum Carl Gustav…

Mit integriertem Licht zu den Computern der Zukunft

Während Computerchips Jahr für Jahr kleiner und schneller werden, bleibt bisher eine Herausforderung ungelöst: Das Zusammenbringen von Elektronik und Photonik auf einem einzigen Chip. Zwar gibt es Bauteile wie MikroLEDs…

Antibiotika: Gleicher Angriffspunkt – unterschiedliche Wirkung

Neue antimikrobielle Strategien sind dringend erforderlich, um Krankheitserreger einzudämmen. Das gilt insbesondere für Gram-negative Bakterien, die durch eine dicke zweite Membran vor dem Angriff von Antibiotika geschützt sind. Mikrobiologinnen und…

Partner & Förderer