Gesichtsschmerz: Ein Chamäleon der Schmerzsyndrome

Patienten mit Gesichtsschmerzen konsultieren zumeist eine große Zahl von Ärzten und Zahnärzten, erhalten entsprechend unterschiedliche Diagnosen und eine Vielzahl – oft vergeblicher – Behandlungen. Dabei kann den meisten mit abgestuften Behandlungsstrategien geholfen werden, betonen Experten auf dem 52. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, der vom 29. Mai bis 1. Juni in Leipzig stattfindet.

Beim deutschen Gesundheitssurvey im Jahr 1998 berichteten 8,6 Prozent der Frauen und 4,7 Prozent der Männer, dass sie in der vergangenen Woche unter Schmerzen im Gesicht gelitten hätten. Wie hoch dabei der Anteil von Betroffenen mit chronischen Beschwerden ist, kann zur Zeit niemand abschätzen. Fest steht nur dies: „Etwa ein Drittel des Kopfes besteht aus dem Kauorgan mit seinen hochkomplexen knöchernen, muskulären und nervalen Strukturen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass dieser große anatomische Komplex mannigfaltige Möglichkeiten bietet, Schmerzen zu erzeugen“, erklärt Professor Andreas Bremerich, Direktor der Klinik für MKG-Chirurgie und Schmerztherapeut am Zentralkrankenhaus St.-Jürgen-Straße Bremen.

Es gibt verschiedene Schmerzsyndrome im Gesicht, deren Symptome sich teilweise überschneiden können. Sehr häufig gehen Schmerzen von der Kaumuskulatur und dem Kiefergelenk aus. Experten sprechen dann von so genannten kraniomandibulären Schmerzen. Hinzu kommen Nervenschmerzen, etwa die Trigeminusneuralgie, Neuropathien oder der so genannte atypische Gesichtsschmerz, sowie tumorbedingte Schmerzen.

Wenn es um die möglichen Ursachen und Auslöser der Beschwerden geht, sind sich die Mediziner bei Gesichtsschmerzen jedoch keineswegs immer einig. Ärzte verschiedener Fachrichtungen stellen unterschiedliche Diagnosen und starten entsprechend unterschiedliche – oft vergebliche – Behandlungsversuche. Menschen mit Gesichtsschmerzen durchlaufen darum in vielen Fällen eine lange „Patientenkarriere“, die zur Chronifizierung der Schmerzen beiträgt.

Darauf hat die Deutsche Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie nun reagiert. Der Vorstand der Fachgesellschaft hat ein Referat „Schmerz“ eingerichtet. Eine Kommission hat damit begonnen, Leitlinien für Diagnostik und Therapie zu erarbeiten. „Denn MKG-Chirurgen, die sowohl Human- als auch Zahnmediziner sind und wie andere Fachärzte die Zusatzbezeichnung ’spezielle Schmerztherapie’ erwerben können“, so Bremerich, „sollten aufgrund ihrer Ausbildung für die Behandlung dieser Schmerzen prädestiniert sein.“

Kraniomandibuläre Schmerzen sind für Bremerich „das Chamäleon unter den Gesichtsschmerzen“. Die Patienten leiden unter Schmerzen der Kaumuskulatur, klagen über Störungen der Kieferbeweglichkeit und Gelenkgeräusche. Depressive Verstimmungen und weitere unspezifische Störungen können hinzu kommen. Nach einer entsprechenden Diagnostik setzen die MKG-Chirurgen eine abgestufte Behandlung ein: Sie beginnt mit Selbstmassage und physikalischer Therapie, auf der nächsten Stufe ergänzt durch Krankengymnastik, Schienenbehandlung und medikamentöse Therapie bis hin zur Entspannungstherapie. „Bei 69 Prozent der Patienten können wir mit diesem Schema eine Schmerzfreiheit oder zumindest Schmerzreduktion erzielen“, sagt Bremerich.

Auch für Neuralgien und Neuropathien stehen inzwischen abgestufte Behandlungskonzepte zur Verfügung. Diese umfassen beispielsweise die Transkutane Elektrische Nervenstimulation (TENS), mit der sich die Patienten selbst behandeln können, bestimmte Medikamente, bei denen es sich allerdings nicht um Schmerzmittel handelt, Blockadeverfahren sowie neurochirurgische Eingriffe. Bremerich: „Mit diesem Behandlungsschema können wir bei über 90 Prozent der Patienten die Schmerzen effektiv behandeln.“

Bei der Diagnose „atypischer Gesichtsschmerz“ handelt es sich meist um eine so genannte Ausschluss-Diagnose: Erst wenn alle anderen möglichen Schmerzformen und Ursachen ausgeschlossen sind, wird diese Diagnose gestellt. Ursache und Entstehung dieses Schmerzes sind unklar. Die Behandlung des atypischen Gesichtsschmerzes erfordert eine individuelle Therapie.

Gleichwohl ist die Abgrenzung der verschiedenen Formen von Nervenschmerzen im Gesicht nicht immer einfach. Eine klassische Trigeminusneuralgie ist zwar in den meisten Fällen einfach zu diagnostizieren: Die Betroffenen leiden unter starken einschießenden Schmerzattacken, die wenige Sekunden bis Minuten andauern können. Zwischen diesen Attacken sind die Patienten schmerzfrei. Zumeist werden die Anfälle über Berührungsreize in so genannten Triggerzonen, bestimmten Punkten im Gesicht, oder mechanisch durch Kauen oder Sprechen ausgelöst. Doch nicht immer ist die Symptomatik so, wie sie im Lehrbuch steht. Darum suchen die MKG-Chirurgen noch nach anderen diagnostischen Möglichkeiten.

Das Team von Bremerich hat in einer Studie mit 121 Patienten überprüft, ob so genannte Somato-Sensorisch-Evozierte Potenziale – elektrische „Antworten“ von Nervenzellverbänden im Gehirn auf die Reizung des Trigeminusnervs – Hinweise auf die Schmerzursache liefern können. Resultat: Bei 65 Prozent der Patienten, bei denen die MKG-Chirurgen eine Trigeminusneuralgie diagnostiziert hatten, waren diese evozierten Potenziale verändert. Demgegenüber beobachteten die Ärzte nur bei 17 Prozent der Patienten mit einem Atypischen Gesichtsschmerz einen derartig pathologischen Befund. „Die Ableitung solcher Potenziale stellt damit eine wertvolle Hilfe bei der Objektivierung neuralgiformer Gesichtsschmerzen dar“, betont PD Dr. Dr. Volker Thieme vom Bremer MKG-Chirurgen-Team.

Rückfragen an:
Prof. Dr. Dr. Andreas Bremerich
Ärztlicher Direktor der Klinik
für Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie
Zentralkrankenhaus St.-Jürgen-Straße
28205 Bremen
Tel.: 0421-497-5500
Fax: 0421-497-3324

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Dipl. Biol. Barbara Ritzert idw

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