Wissenschaftler wendet Methode an, um Erkenntnisse auf dem Gebiet der Kristallographie zu gewinnen

Ba2CoGe2O7 ist ein dunkelblauer Kristall, der von einer japanischen Forschergruppe im Labor gezüchtet wurde. Das Multiferroikum weckt jedoch nicht wegen seiner Farbe das Interesse der Wissenschaftler, sondern wegen seiner elektrischen und magnetischen Eigenschaften. Die Besonderheit solcher Multiferroika ist, dass sich beim Anlegen eines elektrischen Feldes die magnetische Orientierung ändert. Interessant sind solche Materialien für die Entwicklung neuartiger Datenspeicher, die wenig Energie zum Speichern und Lesen benötigen.

Magneto-elektrische Materialien sind seit mehr als 100 Jahren bekannt, ihr Potential als neues Speichermedium erkannte ein japanischer Physiker jedoch erst 2003. In der Folge entdeckten weltweit Wissenschaftler viele neue Multiferroika und entwickelten verschiedene Theorien, um die Wechselwirkung zwischen Elektrizität und Magnetismus zu verstehen und sie damit besser für den Einsatzzweck optimieren zu können. Welche der theoretischen Modelle nun zutreffen, kann nur mit sehr aufwändigen experimentellen Messmethoden geklärt werden.

Forschung an der Neutronenquelle

Einer internationalen Forschergruppe um Dr. Vladimir Hutanu ist es nun kürzlich gelungen, die magnetischen Parameter des Ba2CoGe2O7-Kristalls am Neutronendiffraktometer POLI sehr viel genauer zu vermessen als das bisher möglich war. Um die einzigartigen Eigenschaften von Neutronenstrahlen für die Forschung nutzen zu können, betreibt das Institut für Kristallographie der RWTH Aachen in Kooperation mit dem Forschungszentrum Jülich eine Außenstelle am modernsten deutschen Forschungsreaktor, der Forschungs-Neutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz (FRM II) in Garching bei München. Dort hat Hutanu die so genannte 3D-Polarisationsanalyse mit heißen Neutronen angewendet. Diese Methode kann weltweit nur noch am Institut Laue-Langevin in Grenoble, Frankreich, angewendet werden.

Hutanu benutzte zuerst unpolarisierte Neutronen, um die genaue Anordnung der Atome im Kristall zu bestimmen. Er fand heraus, dass der Kristall – anders als von vielen theoretischen Modellen angenommen – eher eine orthorhombische als eine tetragonale Symmetrie besitzt. Mit dieser Erkenntnis konnte er den Kristall mit polarisierten Neutronen analysieren und damit Informationen über Ausrichtung und Größe der elementaren magnetischen Momente von einzelnen ungepaarten Elektronen (sogenannten Spins) im Kristallgitter erlangen. Um an diese Informationen heran zu kommen, musste vorher das Domänenmuster entschlüsselt werden.
Viele Kristalle bestehen aus baugleichen Bereichen (Domänen), die zueinander unterschiedlich orientiert sind und so die Gesamtenergie des Kristals minimieren. Im Ba2CoGe2O7-Kristall gibt es Domänen, deren magnetische Momente jeweils senkrecht zueinander stehen. Erstmals konnte der Anteil jeder Domänenart im Gesamtkristall sowie deren Veränderung beim Anlegen eines magnetischen und elektrischen Feldes untersucht und genau bestimmt werden. Ohne ein Magnetfeld kommen alle Domänentypen gleich oft vor, daraus resultiert ein gesamtes Magnetmoment von null. Dieses Ergebnis steht aber im Gegensatz zu einer Theorie, die ein – wenn auch kleines – Gesamtmoment vorhersagte.

Ein anderer Theoretiker berechnete, dass ein enorm hohes Magnetfeld von rund einem Tesla (etwa 30 000 Mal höher als das Magnetfeld der Erde) nötig wäre, um nur eine einzige dieser kleinen Domänen über den gesamten Kristall zu schieben. Im Experiment fand die Forschergruppe um Dr. Hutanu jedoch etwas Überraschendes: Der Kristall reagierte sehr schnell auf die Änderung von Magnetfeld und bereits ein Zehntel der theoretischen Feldstärke genügte, um eine Eindomänenstruktur zu realisieren. Mit Hilfe dieser einzigartigen Versuche gelang es den Forschern, experimentell nachzuweisen, dass nur eine der vielen Theorien zu den Messergebnissen passt.

Messungen unter extremen Bedingungen

Das aufwändige Experiment erforderte eine Vielzahl von Messungen unter extremen Bedingungen. Beispielsweise tritt der beobachtete Effekt nur bei sehr tiefen Temperaturen ein, in diesem Fall bei minus 266,5 Grad Celsius. Damit das Magnetfeld der Erde die empfindliche Messung nicht stört, muss es durch supraleitende Niobplatten abgeschirmt werden. Das Metall Niob ist jedoch nur supraleitend, wenn es mit flüssigem Stickstoff und flüssigem Heliumgas unter minus 264 Grad Celsius gekühlt wird. Diese flüssigen Gase verdampfen aber schnell und müssen deshalb regelmäßig und sehr sorgfältig nachgefüllt werden. Die Polarisationsmessung erfordert vor und hinter dem Kristall jeweils einen Kolben mit einem speziellen Helium-Isotop, das mit Lasern polarisiert wurde, so dass alle Gasmoleküle in die gleiche Richtung weisen. Alle Parameter müssen laufend überwacht werden, nur dann ist Verlass auf die Richtigkeit der Ergebnisse. Diese lüften dafür den geheimnisvollen Wechselwirkungsmechanismus von Magnetismus und Elektrizität auf der tiefsten mikroskopischen Ebene eines Kristalls wie Ba2CoGe2O7.

Die Ergebnisse dieser Studie wurden in der renommierten Zeitschrift „Physical Review B“ veröffentlicht. Die Wissenschaftler planen, ihre erfolgreiche Messmethode und ihr Wissen über Multiferroika auch an anderen vielversprechenden Verbindungen einzusetzen, um möglicherweise bald ähnliche Ergebnisse auch bei Zimmertemperatur zu erzielen.

Kontakt:
Dr. Vladimir Hutanu
Institut für Kristallographie RWTH Aachen
Außenstelle am FRM II ZWE/TU München
Lichtenbergstraße 1, 85747 Garching
Tel.: +49 89/289-12153
Email: vladimir.hutanu@frm2.tum.de

Christine Kortenbruck
Presse / Öffentlichkeitsarbeit
Forschungs-Neutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz TU München
Lichtenbergstr.1
85748 Garching
Tel.: +49 89/289-13893
Email: Christine.Kortenbruck@frm2.tum.de

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Thomas von Salzen idw - Informationsdienst Wissenschaft

Weitere Informationen:

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