Durchbruch in der Materialwissenschaft: Kieler verbinden Metalle mit nahezu allen Oberflächen

Das gezielte Ätzverfahren „nanoscale‐sculpturing“ raut die obere Metallschicht (hier Aluminium, 20 µm = 0,02 mm), so auf, dass eine 3D-Struktur mit winzigen Haken entsteht. Melike Baytekin‐Gerngroß

Die Einsatzmöglichkeiten dieser „Superverbindungen“ sind extrem vielfältig und reichen von der Metallverarbeitung in der Industrie bis zu verträglicheren Implantaten in der Medizintechnik. Die Ergebnisse wurden jetzt in der renommierten Zeitschrift „Nanoscale Horizon“ der Royal Society of Chemistry veröffentlicht.

Die weltweit neuartige Methode basiert auf einem elektrochemischen Ätzverfahren, bei dem die oberste Schicht eines Metalls im Mikrobereich kontrolliert aufgeraut wird. „Eine Technologie, die bislang nur von Halbleitern bekannt ist, haben wir jetzt auf Metalle angewendet. Dieses Verfahren so zu nutzen, ist völlig neu“, sagt Dr. Jürgen Carstensen, Mitautor der Publikation.

Bei dem Verfahren werde die Oberfläche eines Metalls in eine Halbleiterschicht umgewandelt, die chemisch geätzt und gezielt verändert werden kann. „Wir haben damit ein Verfahren entwickelt, das Metalle im Gegensatz zu anderen Ätzverfahren nicht schädigt und ihre Stabilität nicht angreift“, betont Professor Rainer Adelung, der am Institut für Materialwissenschaft die Arbeitsgruppe „Funktionale Nanomaterialien“ leitet.

„So können wir Metalle dauerhaft verbinden, die bisher nicht direkt miteinander verbunden werden konnten, zum Beispiel Kupfer und Aluminium“, ordnet Adelung den Durchbruch ein. Die Ergebnisse wurden jetzt in der renommierten Zeitschrift „Nanoscale Horizon“ der Royal Society of Chemistry veröffentlicht.

Wie funktioniert das „nanoscale-sculpturing“-Verfahren genau?

Die Oberfläche von Metallen besteht aus vielen verschiedenen Kristallen und Körnern, von denen einige chemisch weniger stabil sind als andere. Diese instabilen Partikel können mit dem gezielten Ätzverfahren aus der Oberfläche des Metalls herausgelöst werden. Die oberste Schicht wird durch das Ätzen aufgeraut, es entsteht eine dreidimensionale Oberflächenstruktur. Die Eigenschaften der Oberfläche verändern sich, nicht aber die des gesamten Metalls. Denn geätzt wird nur 10 bis 20 Mikrometer tief – eine Schicht, so dünn wie ein Viertel eines Haardurchmessers. Das Kieler Forschungsteam nennt das Verfahren daher „nanoscale-sculpturing“.

Die Veränderung durch das Ätzen ist mit bloßem Auge zu sehen: Die Oberfläche wird matt. „Behandeln wir ein Metall zum Beispiel mit Schmirgelpapier, erhalten wir zwar auch eine sichtbare Veränderung, aber sie ist nur zweidimensional und ändert noch nicht die Eigenschaft der Oberfläche“, erklärt Dr. Mark-Daniel Gerngroß aus dem Forschungsteam der Kieler Materialwissenschaft. Durch das Ätzverfahren entsteht dagegen eine 3D-Oberfläche mit kleinen Haken. Wird jetzt ein verbindendes Polymer zwischen zwei bearbeiteten Metallen aufgebracht, verhaken sich die Oberflächen der Metalle wie ein dreidimensionales Puzzleteil in alle Richtungen miteinander. „Diese 3D-Puzzleverbindungen sind praktisch nicht zu lösen. In unseren Versuchen riss eher das Metall oder das Polymer, aber nicht die Verbindungsstelle“, sagt Melike Baytekin-Gerngroß, Erstautorin der Veröffentlichung.

Oberflächen mit multifunktionalen Eigenschaften

Auch eine dünne Fettschicht, wie sie etwa ein Fingerabdruck auf einer Oberfläche hinterlässt, kann der Verbindung nichts anhaben. „In unseren Tests haben wir sogar Getriebeöl auf Metalloberflächen gestrichen. Die Verbindung hielt trotzdem“, betont Baytekin-Gerngroß. Eine aufwendige Reinigung von Oberflächen, zum Beispiel die Vorbehandlung von Schiffswänden, bevor sie mit Farbe gestrichen werden, könnte damit entfallen.

Zusätzlich setzte die Forschungsgruppe die Puzzle-Verbindungen großer Hitze und Feuchtigkeit aus, um Wetterverhältnisse zu simulieren. Auch das beeinträchtigte ihre Haltbarkeit nicht. Carstensen: „Unsere Verbindungen sind extrem robust und witterungsbeständig.“ Dass die Oberflächen von Metallen durch die Ätzung wasserabweisend werden, ist ein praktischer Nebeneffekt des Verfahrens. Die entstandene Hakenstruktur wirkt wie ein eng ineinander verkeiltes 3D-Labyrinth ohne Löcher, in die Wasser eindringen könnte. Die Metalle besitzen praktisch einen eingebauten Korrosionsschutz. „Dieses Verhalten kennen wir von Metallen wie Aluminium eigentlich nicht. Ein Lotuseffekt bei reinen Metallen, also ohne Auftragen einer wasserabweisenden Extra-Schicht – das ist neu“, sagt Adelung.

Unendliche Einsatzmöglichkeiten

„Die denkbaren Anwendungen sind unglaublich breit gefächert, von metallverarbeitender Industrie wie Schiff- oder Luftfahrt über Drucktechnik und Brandschutz bis zu medizinischen Anwendungen“, sagt Gerngroß. Denn mit dem „nanoscale‐sculpturing“-Verfahren werde nicht nur eine 3D-Oberflächenstruktur gewonnen, die sich ganz ohne Chemie rein physikalisch verbinde. Durch das gezielte Ätzen können auch schädliche Partikel aus der Oberfläche entfernt werden, was insbesondere für die Medizintechnik von großem Interesse sei. Für medizinische Implantate wird häufig Titan verwendet. Zur mechanischen Festigung werden ihm kleinste Mengen Aluminium zugesetzt. Das Aluminium kann jedoch unerwünschte Nebenwirkungen im Körper auslösen. „Mit unserem Verfahren können wir Aluminiumpartikel aus der obersten Schicht entfernen und erhalten so eine deutlich reinere Oberfläche, die für den menschlichen Körper viel verträglicher ist. Weil wir auf der obersten Schicht nur im Mikrobereich arbeiten, wird die Festigkeit des gesamten Implantats dadurch nicht eingeschränkt“, ist Carstensen überzeugt.

Bereits vier Patente haben die Kieler Forschenden auf das Verfahrensprinzip angemeldet. Firmen zeigen bereits großes Interesse an den Anwendungsmöglichkeiten. „Auch Fachkollegen aus der Materialwissenschaft haben auf unsere Erkenntnisse mit Begeisterung reagiert“, freut sich Adelung.

Originalpublikation:
M. Baytekin‐Gerngross, M.D. Gerngross, J. Carstensen and R. Adelung: Making metal surfaces strong, resistant, and multifunctional by nanoscale‐sculpturing. Nanoscale Horizon. DOI: 10.1039/C6NH00140H
http://pubs.rsc.org/en/content/articlelanding/2016/nh/c6nh00140h#!divAbstract

Bildmaterial steht zum Download bereit:

http://www.uni-kiel.de/download/pm/2016/2016-285-1.jpg
Bildunterschrift: Durch Erwärmen lässt sich ein Streifen Aluminium, dessen Oberfläche zuvor mit einem elektrochemischen Ätzverfahren bearbeitet wurde, untrennbar mit einem Thermoplast verbinden.
Foto/Copyright: Julia Siekmann/CAU

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Bildunterschrift: Auch große Metallflächen lassen sich mit dem Ätzverfahren behandeln. Obwohl das Verfahren nur innerhalb einer dünnen Schicht im Mikrometerbereich angewendet wird, ist die entstandene Veränderung mit bloßem Auge sichtbar. Die behandelte Oberfläche des Aluminiums vorne im Bild ist matt geworden.
Foto/Copyright: Julia Siekmann/CAU

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Bildunterschrift: Das Kieler Forschungsteam mit Melike Baytekin-Gerngroß (links), Mark-Daniel Gerngroß, Jürgen Carstensen, Rainer Adelung vergleicht Testergebnisse im Labor.
Foto/Copyright: Julia Siekmann/CAU

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Bildunterschrift: Aluminiumplättchen, die lediglich sandgestrahlt wurden (im Bildhintergrund), können nicht verklebt werden. Die zwei verklebten Plättchen lösen sich wieder an der Schnittstelle zwischen Kleber und Metall – zu sehen daran, dass auf einem der beiden Metallplättchen keine weißen Kleberreste zurückbleiben. Die Aluminiumplättchen im Bildvordergrund wurden vor dem Verkleben mit dem Ätzverfahren „nanoscale sculpturing“ behandelt. Zwar haben sich auch diese Plättchen wieder voneinander gelöst. Dass weiße Klebepartikel auf beiden Plättchen zurückgeblieben sind, zeigt jedoch: Nicht die Verbindung zwischen Kleber und Metall ist gebrochen, sondern der Kleber selbst.
Foto/Copyright: Julia Siekmann/CAU

http://www.uni-kiel.de/download/pm/2016/2016-285-5.jpg
Bildunterschrift: Das gezielte Ätzverfahren „nanoscale‐sculpturing“ raut die obere Metallschicht (hier Aluminium, 20 µm = 0,02 mm), so auf, dass eine 3D-Struktur mit winzigen Haken entsteht. Eine so behandelte Oberfläche kann sich wie dreidimensionale Puzzleteile mit den Oberflächen nahezu aller Materialien unlösbar verhaken. Selbst Verbindungen von Aluminium und Kupfer sind so möglich.
Foto/Copyright: Melike Baytekin‐Gerngroß

http://www.uni-kiel.de/download/pm/2016/2016-285-6.jpg
Bildunterschrift: Die aufgeraute Oberflächenstruktur von Zink in 10.000-facher Vergrößerung (2 µm = 0,002 mm).
Foto/Copyright: Melike Baytekin‐Gerngroß

Kontakt:
Prof. Dr. Rainer Adelung
Funktionale Nanomaterialien
Institut für Materialwissenschaft
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Tel.: +49 (0)431/880-6116
E-Mail: ra@tf.uni-kiel.de

Dr. Jürgen Carstensen
Funktionale Nanomaterialien
Institut für Materialwissenschaft
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Tel. +49 (0)431/880-6181
E-Mail: jc@tf.uni-kiel.de

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Dr. Boris Pawlowski Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

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Die Materialwissenschaft bezeichnet eine Wissenschaft, die sich mit der Erforschung – d. h. der Entwicklung, der Herstellung und Verarbeitung – von Materialien und Werkstoffen beschäftigt. Biologische oder medizinische Facetten gewinnen in der modernen Ausrichtung zunehmend an Gewicht.

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