Sind Gesten eine international verständliche Gebärdensprache?

Linguistin erforscht das Zusammenspiel von Gestik und Sprache

Gesten gehören zur zwischenmenschlichen Kommunikation. Doch nicht alle Fingerzeichen haben die gleiche Bedeutungen: Während der hochgestreckte Daumen des Trampers von jedem Europäer verstanden wird, könnt diese Geste in arabischen Ländern fatale Folgen haben – dort ist das Handzeichen eine sexuelle Beleidigung. Die Linguistin und Psychologin Dr. Cornelia Müller erforscht die Entwicklung von Gesten sowie das Zusammenspiel von Gestik und Sprache.

Gesten sind kommunikative Bewegungen der Hände, der Arme und des Kopfes. Die Gestenforschung untersucht sie als Medien der Repräsentation und Interaktion, die aufs Engste mit dem Sprechen verbunden sind. Wir können mit den Händen viel über die Welt erzählen – welche Form ein Gegenstand hat, wo er im Raum lokalisiert ist, wie groß er ist. Wir können mit den Händen auch zeitliche Angaben machen: Vergangenes liegt hinter, Zukünftiges vor uns. Dies alles sind Gesten, die von Gesprächsbeteiligten meist unbemerkt verwendet und verstanden werden; sie bilden gemeinsam mit dem sprachlichen Ausdruck eine untrennbare Einheit. Für dieses „Äußerungsensemble“ interessiert sich die Gestenforschung. Unwillkürlich zustande kommende Verhaltensweisen, wie zum Beispiel erröten, lachen, erblassen, weinen oder zittern, gehören dahingegen nicht zum Gegenstandsbereich dieser Fachrichtung. Die Erkenntnis, dass Gesten und Sprechen eng miteinander verbunden sind, hat seit der Antike die rhetorische Sprachreflektion geprägt.

Neben dem Mund sind die Hände die einzigen „Instrumente“, mit denen Menschen Sprache hervorbringen. Wie die Zeichensprachen von kulturellen Gemeinschaften, die einem Sprachtabu unterliegen, oder die Sprachen der Gehörlosen zeigen, können wir im Notfall auch nur mit den Händen sprechen. Und doch kooperieren Gesten mit Lautsprache, sie bilden kein eigenes grammatisches System aus und werden in die grammatischen Strukturen sprachlicher Äußerung integriert. In der gestischen Zeichensprache entwickelt sich ein gestisches Vokabular; die grammatischen Strukturen der „Gestensätze“ folgen dahingegen denen der Lautsprache der Sprecher. Im Gegensatz dazu ersetzen Gebärden die Lautsprache dauerhaft und bilden ein eigenes grammatisches System. Gesten und Gebärden in Zeichensprachen ersetzen die Lautsprache für einen begrenzten Zeitraum (wie beim Schweigegebots bei Zisterzienser-Mönchen oder in der Trauerzeit bei den Frauen der australischen Aborigines).

Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen der Gestik und der Sprache vermeidet die Gestenforschung den Begriff der nonverbalen Kommunikation. Es sei irreführend, meint Cornelia Müller, Gesten als nicht-sprachlich zu charakterisieren. „Eine solche Redeweise legt die Trennung zwischen sprachlichen und körperlichen Kommunikationsformen nahe, die sachlich nicht gegeben ist. Angemessener wäre hier der Begriff der multi-modalen Kommunikation.“

Die meisten Gesten haben ihren Ursprung in einer Handlung. Wer früher zum Beispiel das Visier seiner Rüstung hochklappte oder den Helm abnahm, zeigte deutlich, dass er kein Feind ist und nicht kämpfen will. Als verbindliches Zeichen für den Frieden wird die Waffe zur Seite gelegt, die Hand gereicht. Aus den einst handfesten Bedeutungen sind so freundschaftliche Alltagsgesten geworden: das Lupfen des Hutes oder das Erheben der Hand. „Die Spurensuche nach dem Ursprung einer Geste führt uns meistens zu einer Tätigkeit, die Hinweise auf die jeweilige Kultur gibt, in der die Geste geboren wurde“, sagt die Linguistin.

Gesten sind „Kulturprodukte“. Es gibt Völker, die ein größeres Repertoire an Gesten mit einer festen Bedeutung haben – die Süditaliener verfügen über einen reicheren Wortschatz an sprachersetzend verwendeten Gesten als die Deutschen. Es gibt Kulturräume, in denen die Gestenausführung weniger augenfällig ist als in anderen: In Nordeuropa werden Gesten vorwiegend aus dem Handgelenk ausgeführt, während sie in Südeuropa aus der Schulter heraus gemacht werden. Zudem gibt es kulturell verschiedene „Gestenwörter“. So stellt in manchen Kulturkreisen die „Ringgeste“ – ein Kringel aus zwei Fingern – Anerkennung, in anderen Beleidigung: Sie kann „perfekt“ und „OK“ bedeuten oder auch „Arschloch“. Oder der Fingerkringel steht für eine Null oder ein Geldstück.

Können Gesten gezielt gelernt werden? „Nein“, sagt Cornelia Müller. Man könne sich zwar Handhaltungen angewöhnen, wie die Ruheposition der Hände, aber man könne das feine inhaltliche Zusammenspiel zwischen Geste und Sprache nicht einstudieren. „Das ist der Rhetorik und der Schauspielkunst nicht gelungen, und auch die modernen Kommunikationstrainings können das nicht leisten“, erklärt die Psychologin. „Sie leisten es aber, Auffälligkeiten und persönliche Merkmale abzutrainieren und standardisierte Grundhaltungen zu vermitteln. Wenn aber eine freie und differenzierte Argumentation vorgetragen wird, dann werden die Gesten spontan erzeugt und entsprechend geformt und plaziert.“ Gesten kann man also nicht lernen, aber man kann sie sich abgewöhnen. „Man kann lernen, nicht so raumgreifend zu gestikulieren. Weniger zu gestikulieren wirkt zwar ruhiger, aber auch langweiliger – vergleicht man etwa Michel Friedman mit Sabine Christiansen“, sagt Müller.

Seit wann der Mensch gestikuliert, ist nicht bekannt. Ebenso wenig ist geklärt, ob das Wort oder die Geste zuerst da war. „Vermutlich haben sich Sprache und Gestik Hand in Hand entwickelt“, meint Cornelia Müller. „Gefühle wurden wahrscheinlich schon sehr früh mit Lauten geäußert, und aus dem Greifen nach einem Gegenstand wurde, ebenfalls schon früh, die Zeigegeste.“ Und wie früh? „Es gibt Höhlenmalereien, die Hände zeigen, an denen einige Finger fehlen“, erzählt Müller und spekuliert: „Das könnten früheste Zeugnisse menschlicher Gestenkenntnis sein.“ An die Theorie, die Gestik eines Menschen sei der Schlüssel zu seiner Persönlichkeit und spontane, redebegleitende Gesten offenbarten seine innersten Gefühle, glaubt sie nicht: „Gesten können nur im Kontext gedeutet werden. Dazu gehören die Beziehung der Gesprächspartner, der Inhalt des Gesprächs, die Situation sowie die Körperhaltung, die Mimik und die Stimme.“ Wenn eine Person also die Arme vor der Brust verschränkt, heißt das noch lange nicht, dass er abweisend und verschlossen ist, weil er – wie der Steinzeitmensch – sein Herz vor Angreifern schützt. Vielleicht ist ihm einfach nur kalt.

Gelehrte Betrachtung zum Zusammenspiel von Rede und Geste gibt es seit mehr als zweitausend Jahren. Nicht nur die Rhetorik, auch die Philosophie, Ästhetik, Physiognomik und Anthropologie haben Gesten untersucht, beschrieben und in theoretische Systeme eingebaut. Die „moderne“ Gestenforschung ist erst durch die mediale Revolution im zwanzigsten Jahrhundert möglich geworden. Die filmische Dokumentation von sprechenden Menschen hat eine detaillierte Analyse verschiedener Gestenformen und ihrer Verwendung beim Sprechen ermöglicht. In den Neunzigerjahren haben sich die Aktivitäten der Gestenforscher so verdichtet, dass der Zeitpunkt für eine Bündelung und Institutionalisierung gekommen war: Im Jahr 2001 wurde die internationale Zeitschrift für Gestenforschung „GESTURE“ ins Leben gerufen und im vergangenen Jahr die Internationale Gesellschaft für Gestenforschung ISGS gegründet.

Weitere Informationen erteilt:

Dr. Cornelia Müller
Institut für Deutsche Philologie (Linguistik)
der Freien Universität Berlin
Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin
Tel.: 030 – 838-54439
E-Mail: gesture@zedat.fu-berlin.de

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