Studie über Umgang mit statistischen Informationen zum "Wissenschaftsbuch des Jahres 2002" gewählt

Fehlschlüsse und falsche Interpretationen von statistischen Informationen können fatale Folgen haben: für die eigene Gesundheit, die eigene Freiheit oder auch das Bankkonto. Diese These belegt der Kognitionspsychologe Gerd Gigerenzer an Hand eindrücklicher Beispiele in seinem neuen Buch „Das Einmaleins der Skepsis“.

Das flüssig geschriebene Buch wurde nun von Bild der Wissenschaft zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2002 gewählt, das „am besten über ein Thema informiert“.

Gigerenzer und seine Mitarbeiter untersuchen am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, wie Menschen Informationen verarbeiten und Entscheidungen treffen. Und das funktioniert bei Menschen anders als bei einem Computer, meint Gigerenzer, denn im Lauf der Evolution haben sich bestimmte Denkmuster und Routinen ausgebildet, die oft schnell und mit wenig Aufwand zu guten Ergebnissen führen. Doch immer sollten wir uns auf diese an sich erfolgreichen Denkgewohnheiten nicht verlassen, denn gerade für den Umgang mit statistischen Informationen sind wir offenbar nicht gut gerüstet. Zu welchen groben Missverständnissen und Fehlschlüssen es häufig kommen kann, zeigt Gigerenzer an aktuellen Beispielen wie der Diskussion um das Brustkrebs-Screening, der AIDS-Diagnostik, aber auch der DNA-Analyse in der Rechtssprechung und anderen Lebensfeldern. Und zwar nicht nur bei Laien, sondern nachweislich auch bei Medizinern, Juristen, Psychologen und Finanzexperten. Doch Gigerenzer beschränkt sich nicht auf Expertenschelte, sondern erklärt auch, warum wir Schwierigkeiten im Umgang mit Risiko und Wahrscheinlichkeiten haben und wie wir lernen können, mit statistischen Informationen richtig umzugehen. Nach der durchaus vergnüglichen Lektüre seines Buches hat man, quasi nebenbei, ein paar nützliche Denkwerkzeuge für das Leben im Informationszeitalter erworben.

Die Tatsache, dass nichts vollkommen sicher ist, mag unbequem erscheinen, aber vorschnelle Vereinfachungen und falsche Sicherheiten können lebensgefährlich sein. Gigerenzer schildert den tragischen Fall einer junge Amerikanerin, die sich aus einem Impuls heraus einem AIDS-Test unterzog. Die alleinerziehende Mutter gehörte keiner Risikogruppe an, sie war weder drogenabhängig noch promiskuös. Doch ihr Test fiel positiv aus und dies – so erklärte ihr der Arzt – wies mit Sicherheit auf eine HIV-Infektion hin. Die Frau küsste ihren kleinen Sohn nicht mehr, um ihn nicht anzustecken, verlor ihren Job und hatte ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einem HIV-infizierten Mann. Durch einen Zufall wurde einige Monate später ein zweiter Text gemacht. Als dieser negativ ausfiel, suchte man die erste Blutprobe hervor und wiederholte den Test: Das Ergebnis war diesmal negativ. Hätte man sie rechtzeitig darüber aufgeklärt, dass es auch falsch-positive Ergebnisse gibt, hätte sie sich viel ersparen können. Auch in Deutschland sind AIDS-Berater leider nicht besser informiert, weiß Gigerenzer. Einer seiner Studenten stellte sich in über 20 Beratungsstellen in verschiedenen Städten vor und fragte, was ein positiver Test in seinem Fall (keinerlei Risikofaktoren) bedeuten würde: Fast alle Berater sagten ihm voller Überzeugung, die Möglichkeit eines Irrtums läge nahe bei Null, weil der Test zu 99,9 Prozent sicher sei. Die Angabe zur Testsicherheit ist richtig, aber die Schlussfolgerung daraus ist falsch: In Wirklichkeit ist sogar jede zweite positive Diagnose in dieser Gruppe von Menschen falsch-positiv!

Am Beispiel Brustkrebs zeigt Gigerenzer, wie ein informierter Umgang mit unsicheren Ergebnissen zu mehr Gelassenheit und Lebensqualität führen kann. Entgegen landläufiger Annahmen liegt die Wahrscheinlichkeit, dass eine 40-jährige Frau Brustkrebs hat, bei etwa einem Prozent. Ein Krebsherd wird mit 90-prozentiger Sicherheit durch eine Mammografie erkannt. Von den weitaus zahlreicheren nicht an Brustkrebs erkrankten Frauen werden jedoch auch neun Prozent einen falsch-positiven Befund erhalten. Wie hoch ist nun die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau mit einem positiven Mammografie-Befund tatsächlich Brustkrebs hat? Die meisten Ärzte, denen Gigerenzer diese einfache Frage stellte, meinten, diese Wahrscheinlichkeit läge im Bereich von 90 Prozent. Doch die tatsächliche Wahrscheinlichkeit ist nur zehn Prozent. Das lässt sich am Beispiel von 1000 Frauen schnell demonstrieren: 10 Frauen von den 1000 haben Brustkrebs und 990 nicht. Von den 10 krebskranken Frauen erhalten 9 ein positives Mammogramm, von den 990 anderen Frauen testen jedoch 89 (9 Prozent) falsch positiv. Insgesamt bekommen damit 98 Frauen einen positiven Befund, doch nur 9 davon sind tatsächlich krebskrank, also sogar weniger als zehn Prozent.

Alle Menschen können auch ohne formale Mathematikausbildung lernen, mit unsicheren Informationen richtig weiterzudenken, sagt Gigerenzer. Allerdings müssen uns diese Informationen in einer Art gegeben werden, die wir von Natur aus gut verstehen: Anstatt von abstrakten Wahrscheinlichkeiten in Prozentangaben zu reden, sollte man sich lieber die betroffenen Menschen vorstellen, die zu bestimmten Gruppen gehören, wie in dem oben genannten Mammografie-Beispiel. Denn in diesen Kategorien können wir offenbar wesentlich klarer denken.

Anwälte nutzen die Verwirrung gerne aus, um mit Zahlen Sachlichkeit zu demonstrieren und gleichzeitig Zusammenhänge zu verschleiern. Als der US-Sportler O. J. Simpson wegen Mordes an seiner Frau vor Gericht stand, erklärte sein Verteidiger, dass Simpson zwar seine Frau geschlagen habe und zu Gewaltausbrüchen neigte, aber dass dies noch keineswegs dafür spreche, dass er sie nun auch ermordet habe. Denn nur ungefähr eine von 2500 geschlagenen Frauen werde von ihrem Partner auch ermordet, die große Mehrzahl dagegen „nur“ misshandelt. Das klingt zunächst korrekt, vernebelt aber das Problem. Denn hier darf man nicht die große Gruppe der geschlagenen Frauen betrachten, sondern sollte sich eine wesentlich kleinere Gruppe genauer ansehen: Die ermordeten Frauen, die zuvor von ihrem Partner auch geschlagen wurden. Zu dieser Gruppe gehörte Nicole Simpson und aus Kriminalstatistiken ist bekannt, dass acht von neun Frauen aus dieser Gruppe vom eigenen Partner getötet wurden. Die Tatsache früherer Misshandlungen ist also sehr wohl ein Indiz gegen den Partner der Ermordeten.

Die Zahlenblindheit der Mehrheit wird auch kommerziell ausgenutzt, meint Gigerenzer. Pharmahersteller bewerben ihre Produkte zum Beispiel am liebsten mit Angaben zur „relativen Risikoverminderung“. Senkt beispielweise ein Medikament die Sterberate von ursprünglich 6 von 1000 Personen auf 4 von 1000, so hat sich das Sterberisiko durch die Einnahme dieser Tabletten um 33,3 Prozent verringert. Das klingt beeindruckend. Weit beeindruckender jedenfalls als die absoluten Zahlen: Denn durch das Medikament bleiben nur 2 von 1000 Personen mehr am Leben als ohne die Behandlung. Die absolute Verringerung des Risikos ist demnach nur 0,2 Prozent.

Schon zu Beginn des 20sten Jahrhunderts sagte der Schriftsteller H.G. Wells: „Statistisches Denken wird für den mündigen Bürger eines Tages dieselbe Bedeutung haben wie die Fähigkeit lesen und schreiben zu können.“ Hundert Jahre später sind wir immer noch weit davon entfernt, mit Wahrscheinlichkeiten, Unsicherheiten und Risiken kompetent umzugehen. Gigerenzer gibt den Lesern nun die richtigen Werkzeuge in die Hand, mit denen statistisches Denken und Entscheiden in Zukunft leichter fällt.

Media Contact

Prof. Gerd Gigerenzer Max-Planck-Gesellschaft

Weitere Informationen:

http://www.mpib-berlin.mpg.de

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