Kann das Gehirn bald mit Prothesen reden?

Wer nicht mehr sieht oder hört, wer nicht mehr gehen oder greifen kann, der wird in seiner Lebensqualität massiv eingeschränkt. In der Science Fiction Literatur gibt es jede Menge Lösungen dafür, zum Beispiel durch den Einsatz von voll funktionstüchtigen Ersatzkörperteilen. Doch was früher reine Fiktion war, wird durch den rasanten technischen Fortschritt immer mehr zur greifbaren Realität. Auch die Universität Bremen wird sich verstärkt an der Entwicklung von Neuroprothesen beteiligen und hat jetzt den Forschungsschwerpunkt „Neurotechnologie“ eingerichtet.

Tatsächlich könnten heute bereits Hand- und Armprothesen gefertigt werden, die von ihrer mechanischen Präzision und Differenziertheit in die Nähe des menschlichen Originals kommen. Die zentrale Herausforderung besteht jedoch darin, der Aktivität des zentralen Nervensystems Signale und Information zu entnehmen, mit denen diese Prothesen sinnvoll gesteuert werden können. Umgekehrt bereitet es für den heutigen Stand der Technologie kein Problem, Bilder oder Töne für Seh- oder Hörprothese aufzunehmen. Das Problem besteht darin, sie dem hoch komplexen Gehirn zugänglich zu machen.

Um die Vision Wirklichkeit werden zu lassen, bedarf es zum einen einer Technologie, welche die Signale des Gehirns sehr genau und in möglichst großer Vielfalt sicher und über lange Anwendungszeiträume erfassen kann bzw. Signale an das Gehirn übergeben kann. Hierfür ist zum anderen erheblich mehr Wissen über die Sprache des Gehirns notwendig. Nur unter diesen beiden Voraussetzungen kann zwischen der Sprache des technischen Prothesensystems und der des zentralen Nervensystems übersetzt und die notwendige beiderseitige Kommunikation ermöglicht werden.

Uni fördert den neuen Forschungsschwerpunkt „Neurotechnologie“

Nach einer intensiven Begutachtung hat sich die Universität Bremen entschieden, diesen Forschungsbereich langfristig zu fördern und dafür den interdisziplinären Forschungsschwerpunkt „Neurotechnologie“ einzurichten. Im Rahmen einer drei Jahre laufenden Förderung werden über 470.000 Euro für den Ausbau dieser Forschungsrichtung zur Verfügung gestellt. Innerhalb des Forschungsschwerpunktes werden Erfahrungen und Erkenntnisse aus den Bereichen der theoretischen Elektrotechnik & Mikroelektronik, Hochfrequenztechnik, Mikrosystemtechnik, Automatisierungstechnik, Psychologie & Kognitionsforschung, Neurophysik und der Neurobiologie gebündelt. So soll eine dauerhafte interdisziplinäre Vernetzung zum Erforschen von Neurotechnologien geschaffen werden.

Mit dem zentralen Nervensystem kommunizieren

Mit dem Forschungsschwerpunkt Neurotechnolgie sollen neue medizinische Anwendungsgebiete erschlossen werden. Viele Ärzte möchten neue Methoden für Behandlung und Rehabilitation von Patienten zur Verfügung haben. Bislang fehlen hierfür jedoch sichere, langzeitstabile „bi-direktionale Neurointerfaces“, also Schnittstellen für die Übertragung von Information von Außen in das zentrale Nervensystem sowie die Übertragung von Information aus dem zentralen Nervensystem in die externe Welt. Derartige bi-direktionale Schnittstellen würden es ermöglichen, mit Hilfe der gemessenen Hirnaktivität Prothesen und zahllose andere Hilfseinrichtungen für zum Teil schwerst beeinträchtigte Patienten zu steuern. Eine weitere, noch weit weniger erforschte, aber extrem wertvolle Anwendung ist zum Beispiel, visuelle Informationen aus der Umgebung und Tastempfindung von Prothesen direkt in das zentrale Nervensystem eines Patienten einzuspeisen.

Sprache des Gehirns verstehen

Ein weiterer Aspekt des Forschungsschwerpunktes ist es, die Sprache des Gehirns zu verstehen, um so mit dem zentralen Nervensystem kommunizieren zu können. Schon heute ist es möglich, Steuersignale für Prothesen und Geräte per EEG (Elektroenzephalografie) aus den komplexen Gemischen der Hirnaktivitäten zu extrahieren und damit Funktionen eines Computers oder Handlungen eines Roboters auszuwählen. Leider versagt die heutige Technik bei einem Drittel der Menschen, und die Informations-Übertragungsraten aus dem Gehirn sind gering. So ist man zurzeit noch weit davon entfernt, die einzelnen Finger einer Handprothese in Echtzeit ansteuern zu können – für einen gesunden Menschen eine Selbstverständlichkeit.

Die Einkopplung von Daten in das Gehirn ist noch einmal deutlich komplizierter. Dies scheitert heute noch vor allem an dem mangelnden Verständnis der Sprache des Gehirns und der bisherigen zur Verfügung stehenden Technologie. Einen zentralen Teil der medizintechnischen Grundlagenforschung stellen die Untersuchungen am zentralen Nervensystem von Ratten und Makaken dar. Sie erlauben die Erforschung der neurowissenschaftlichen Grundlagen für eine zielgerichtete Entwicklung der Neuroprothetik und die Erprobung vor dem ersten Einsatz am Menschen.

Wettbewerbsfähigkeit der Uni Bremen stärken

Gleichzeitig soll der Forschungsschwerpunkt die Wettbewerbsfähigkeit der Universität Bremen in der neurotechnologischen Grundlagenforschung erhöhen. Diese Maßnahme ist komplementär zu drei weiteren Forschungs- und Entwicklungsprojekten: dem aus dem „Innovationswettbewerb Medizintechnik des BMBF hervorgegangenen Projekt: KALOMED – Kabellose Erfassung lokaler Feldpotentiale und elektrische Stimulation der Großhirnrinde für medizinische Diagnostik und Neuroprothetik“ (http://www.kalomed.info); dem EU-Projekt „BRAIN“ (http://www.brain-project.org) und dem stärker anwendungsorientierten Projekt „Schnelle Brain Computer Interface (BCI)-Systeme für Alltagsanwendungen“ (http://www.fwbi-bremen.de/), in enger Zusammenarbeit mit dem Friedrich-Wilhelm-Bessel-Institut. KALOMED wird seit Mitte 2009 an der Universität Bremen zusammen mit der Abteilung für Epileptologie der Universitätsklinik Bonn und der Firma Brain Products GmbH erfolgreich durchgeführt. Das Ziel des Projektes ist es, ein System zu entwickeln, welches es ermöglicht, bei Menschen drahtlos medizinische Diagnostik am zentralen Nervensystem vorzunehmen und eine zukunftsweisende Schnittstelle für neuro-prothetische Anwendungen zu schaffen. Ein wichtiger Aspekt dieser Entwicklung ist, die Langzeitstabilität und Sicherheit des Systems. Die beiden Projekte BRAIN und sBCI untersuchen die Verbesserung von nicht invasiven Brain Computer Interfaces (BCI) und deren Einsatz in Alltagsanwendungen.

Weitere Informationen:

Universität Bremen
Fachbereich Physik / Elektrotechnik
Institut für Automatisierungstechnik
Prof. Dr.-Ing. Axel Gräser
Tel: 0421 218 62444
E-Mail: ag@iat.uni-bremen.de

Media Contact

Eberhard Scholz idw

Weitere Informationen:

http://iat.uni-bremen.de

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