"Kampf der Kulturen" in der frühen Neuzeit – Neue Forschungsergebnisse am Osteuropa-Institut München

Die Idee, den politischen Gegensatz als Mittel zur eigenen Identitätsbildung benutzen, ist aktuell. So schrieb der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington, der 1993 das Schlagwort vom Clash of Civilizations prägte, in dem Aufsatz The Erosion of American National Interest, der 1997 in der Zeitschrift Foreign Affairs (76:5, S. 28-49) erschien, wie das Auftauchen eines neuen Feindbildes dazu beitragen könnte, eine heterogene Gesellschaft neu zusammenzuführen und „national“ zu verschmelzen. Schließlich erfolgte in den USA eine solche, teils interessenspolitisch gesteuerte Besinnung auf die eigene Identität nach dem verheerenden Terroranschlag des 11. September 2001; dies zeigt z.B. der von 58 amerikanischen Intellektuellen wie Huntington und Francis Fukuyama am 12. Februar 2002 unterzeichnete Traktat „What we’re fighting for“, der im Rahmen des Insitute for American Values die Theorie eines neuen „bellum iustum“ gegen das die Kultur bedrohende „absolute evil“ zu etablieren versuchte.

Europa erlebte bereits im Jahrhundert der Glaubensspaltung und der Expansion in die Neue Welt ähnliche Versuche. Die neue Mobilität der Menschen auch innerhalb des lateinischen Europa, die Glaubenskrisen und die Renaissance stimulierten gedankliche Auseinandersetzungen, in denen vor allem in den Grenzgebieten die Frage nach der Identität der lateinischen Christenheit neu gestellt und erörtert wurde. Im Rahmen eines großangelegten gemeinsamen Forschungsprojekts der Universitäten Würzburg und München und des Osteuropa-Instituts München hat Markus Osterrieder in München diesen Vorgang am Beispiel des damaligen polnisch-litauischen Großreiches untersucht.

Mythische Bilder spielten im 16. Jahrhundert wie auch noch heute eine zentrale Rolle. Das „sarmatische“ Ideal des polnisch-litauischen Adels (Szlachta) etwa sollte verschiedene ethnische und sprachliche Komponenten zu einem Ganzen verbinden. Die „Nation“ wurde dabei als kulturelle Vormauer gegen die Türken und abgeschwächt auch gegen die Moskowiter verstanden, als Russland 1558 den Kampf um das baltische Livland begann, in den bald auch Polen-Litauen und Schweden hineingezogen werden sollten. Das neu aufgegriffene Prinzip der Polarisierung, der Gegenüberstellung von angeblich unvereinbaren Extremen, diente zugleich der Festigung der eigenen Identität, denn wie sonst konnte man so deutlich erkennen, wo wirkliche „Freiheit“ zu finden war, wo Ruhm und Kultur ihren Gipfelpunkt erreicht hatten, als wenn man einen Antipoden schuf, der all das zu verkörpern hatte, was man in der eigenen Selbstdarstellung als wesensfremd ablehnte? Reales vermischte sich dabei mit Fiktivem, tatsächliches Geschehen mit literarischen Topoi und Allegorien.

Im Zusammenhang mit sozialer Gemeinschaftsbildung übt die menschliche Sprache eine ambivalente Funktion aus: Sprache wirkt gemeinschaftsbildend und gemeinschaftsspaltend zugleich. Einmal dient sie der Kommunikation und Verständigung unter Menschen, die sich mit Hilfe des Sprachmediums als Gemeinschaft wahrzunehmen und zu organisieren lernen. Umgekehrt kann Sprache bereits gewachsene Menschengemeinschaften auflösen, sofern sich innerhalb dieser Gemeinschaft differenzierte Kommunikationsräume herausbilden. Eine vereinheitlichte, abgegrenzte Vernakularsprache kann jedoch nicht mit dem Vorgang des sogenannten „Nation Building“ gleichgesetzt werden. Der Versuch, die Vereinheitlichung des Sprachraums durch Erlasse und Verordnungen gezielt zu steuern, ist vielmehr der Ausdruck eines zentralistischen Herrschaftsverständnisses – spätestens seit der Aufklärung dann gepaart mit der utilitaristischen Forderung nach größtmöglicher Effizienz – und eines daraus abgeleiteten Monopols über die Möglichkeiten, kulturell-sprachliche Identität zu erfahren und weiterzugeben. Dieser Machtwille kann sich zu einem regelrechten Sprachenkrieg ausweiten, dessen Schlachtfelder die Medien und die Schulerziehung sind. Ein solcher ’Krieg’ ist sowohl nach außen wie nach innen gerichtet: Nach außen, um eroberte Provinzen und deren Bewohner dem eigenen Herrschaftsraum nachhaltig einzuverleiben; nach innen, um alle Provinzen des Reichs nach dem zentral vorgegeben Modell zu vereinheitlichen und zu homogenisieren. Dieser Vorgang war in vielen europäischen Staaten erst mit Anfang des 20. Jahrhunderts abgeschlossen, in einigen Regionen ist das bis heute nicht der Fall.

Das Moskauer Russland zählte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach überwiegender Vorstellung zu den „nördlichen“ Völkern. Zwischen den ihrem Temperament nach ,verwandten’ Völkern des Nordens verlief keine naturgegebene Zivilisations- oder Kulturgrenze. So waren die Bewohner Russlands zwar extrem kriegerisch veranlagt, aber aufgrund ihrer nördlichen Heimat keineswegs den übrigen (nord-)europäischen Völkern fremd. Nach Ausbruch des Livländischen Kriegs wurde Moskau von polnischen Publizisten jedoch immer häufiger aus der Imagination von Europa gedrängt und unter der Bezeichnung „Sarmatia asiana“ bzw. „Scythia“ in das feindliche, kulturell entgegengesetzte „Asia“ gebannt. Zugleich wurde durch Gegenreformatoren die „Romanität“ des polnisch-litauischen Staates, der „Rzeczpospolita“ betont.
So begann sich während des Livländischen Krieges eine Entwicklung abzuzeichnen, die auch vor dem Hintergrund der Religionskriege und der Gegenreformation gesehen werden muss: Russland wurde aus einer Europa-Vorstellung hinausgedrängt, das seinen ideellen Mittelpunkt in Rom hatte, und zwar sowohl – im Sinn der Renaissance – im antiken Rom wie auch – im Sinn der Gegenreformation – im päpstlichen Rom. Zugleich stilisierte sich Polen-Litauen als Bollwerk dieses Europa. Für das Moskauer Russland und seine Bewohner hatte dieser Wandel beträchtliche Auswirkungen. Weniger die empfindliche militärische Niederlage im Livländischen Krieg als vielmehr die gleichzeitig vollzogene mentale Verdrängung, der Ausschluss aus der imaginären Vorstellung einer Gemeinschaft europäischer Reiche und Völker und die „Verbannung nach Asia“, sollte die Geschicke des Zarenreiches fortan entscheidend prägen.

Kontaktaufnahme:
Markus Osterrieder: 8545165celtoslavica@t-online.de
Osteuropa-Institut München/Historische Abteilung: Historiker.Osteuropainstitut@lrz.uni-muenchen.deBeyer-Thoma@t-online.de

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Dr. Hermann Beyer-Thoma idw

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