Kinder sind klüger als wir denken

Internationales Psychologen-Team zeigt, dass Kleinkinder bei der Imitation von Gesten nicht den Bewegungsablauf, sondern das Ziel der Bewegung nachahmen

Die Imitation ist eine wichtige Form des Lernens. Sie erlaubt, sich innerhalb kurzer Zeit komplexe Verhaltensmuster anzueignen. Bisher bestand in der Psychologie die Tendenz, den Begriff der Imitation für jedes Verhalten zu gebrauchen, das sich als Kopie eines zuvor beobachteten Vorbilds erkennen lässt. Harold Bekkering, Wissenschaftler am Münchner Max-Planck-Institut für psychologische Forschung und jetzt an der Universität Groningen/Niederlande, hat jetzt gemeinsam mit György Gergely und Ildiko Kiraly vom Institut für Psychologie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften nachgewiesen, dass Kleinkinder zielgerichtete Aktionen nur dann nachahmen, wenn ihnen diese Nachahmung als die rationalste Alternative erscheint, um das anvisierte Ziel zu erreichen (nature, 14. Februar 2002). Damit wird eine seit fünfzehn Jahren in der Entwicklungspsychologie bestehende Theorie widerlegt, wonach Kleinkinder sich beim Nachahmen lediglich darum bemühen, die eigene Mimik und Gestik mit der visuellen Vorlage einer Modellperson zur Deckung zu bringen.

Das Nachahmungsverhalten von Säuglingen und Kleinkindern steht derzeit im Fokus verschiedenster Forschungsprojekte. Mittlerweile ist es auch über die Grenzen der Fachwelt bekannt, dass die moderne psychologische Forschung bei wenige Monate alten Säuglingen erstaunliche kognitive und motorische Fähigkeiten nachweisen konnte. Eine wichtige Frage bleibt weiterhin, wie sich die Imitation vom Säugling bis zum Erwachsenen grundsätzlich entwickelt: Bedeutungsvoll ist dabei nicht nur die Tatsache, wie früh Babys über sehr anspruchsvolle Kompetenzen verfügen, sondern vielmehr die Revision bisher bestehender Auffassungen, wie sich die verschiedenen Fähigkeiten Schritt für Schritt entwickeln.

So dominiert seit über fünfzehn Jahren in der Entwicklungspsychologie die Auffassung, dass Kleinkinder die Bewegungen oder Handlungen von Modellpersonen lediglich motorisch „kopieren“, indem sie einen Vergleich zwischen den wahrgenommenen und den selbst ausgeführten Bewegung anstellen. Grundlage dafür war eine Studie von Andrew Meltzoff aus dem Jahr 1988: Vor den Augen vierzehn Monate alter Babys drückte eine Modellperson ihre Stirn auf die Oberseite einer geheimnisvollen Box, die daraufhin aufleuchtete. Eine Woche später durften die Einjährigen sich selbst mit der Box beschäftigen – und sofort senkten sie ihr kleines Köpfchen in der zuvor gesehenen Weise auf die Box herunter (vgl. Abb. 1). Exakt 67% der Babys in dieser Gruppe kopierten damals diese „Kopfbewegung“, während die Kinder in einer neutralen Vergleichsgruppe nichts mit der Box anzufangen wussten. Meltzoff stellte damals die folgenreiche These auf, die Kinder differenzierten das Ziel von den Mitteln, mit denen es erreicht wird; sie „imitierten die Mittel…, nicht einfach nur das Ziel“.

 
  Abb. 1: Berühren der Box mit der Stirn.
   
Die Psychologen am Münchner Max-Planck-Institut für psychologische Forschung hatten sich jedoch die Frage gestellt, aus welchem Grund die Kinder die Box nicht einfach nur mit ihren Händen berührten, um sie zum Leuchten zu bringen, sondern stattdessen die ungewöhnliche „Kopfbewegung“ imitierten. Die Wissenschaftler vermuteten, dass in diesem Versuch Elemente enthalten sein könnten, die es den Kindern ermöglichten, die „Kopfbewegung“ zu durchdenken. So könnten sie sich fragen, warum die Versuchsperson, obwohl ihre Hände frei waren, diese nicht benutzt hat, sondern trotzdem die Box mit der Stirn berührte. Die Kinder könnten daraus geschlossen haben, dass es irgendeinen Vorteil geben muss, warum die Modellperson genau auf diesem Weg zum Ziel kommen will. Die Münchner Psychologen vermuteten, dass die Kinder deshalb in der selben Situation das Gleiche gemacht haben.

Um ihre Hypothese zu testen, haben die Forscher die Studie von Meltzoff noch einmal nachgestellt – mit einer Modifikation: Die Hände der Modellperson waren diesmal bei der „Kopfbewegung“ sichtbar beschäftigt. Dazu legte sich diese – unter dem Vorwand, ihr sei kalt – eine Decke um die Schultern und hielt diese mit beiden Händen fest. In diesem Fall sank die Imitation der „Kopfbewegung“ drastisch auf 21% ab, die Kinder benutzten vielmehr ihre Hände. Waren in diesem Test jedoch die Hände der Modellperson sichtbar frei, kopierten wieder 69% der Babys die „Kopfbewegung“ – wie in dem damaligen Test von Meltzoff.

Der Grund für diesen Unterschied ist einfach: Waren die Hände der Modellperson mit der Decke beschäftigt, konnte die Modellperson die Box zwangsläufig nur mit dem Kopf zum Leuchten bringen. Die Kinder dagegen hatten ihre Hände frei und verwendeten diese deshalb, um die Box einzuschalten.. Waren jedoch die Hände der Modellperson frei und deshalb der Kopf nicht unbedingt das probateste Mittel, mussten die Kinder wohl glauben, so argumentieren die Forscher, dass die Kopfbewegung wirklich notwendig ist, um die Box zum Leuchten zu bringen.

Doch die Forscher fanden auch heraus, dass alle Kinder – egal ob sie die „Kopfbewegung“ kopierten oder nicht – immer auch ihre Hände benutzten. Das bedeutet, dass 14 Monate alte Babys zwar noch Subjekt eines automatischen Nachahmungstriebs sind, dass aber die Erinnerung des Effekts (Ich erreiche Beleuchtung durch Berührung) eine Handlung aktiviert, die noch viel stärker mit Kontakt-Herstellen assoziiert wird, nämlich die Berührung mit den Händen. „Damit wird deutlich, dass das Imitationsverhalten von Kleinkindern weit über das pure Nacheifern hinausgeht. Wir schließen daraus, dass die Imitation zielgerichteter Handlungen bereits bei Kleinkindern ein selektiver, gefolgerter Prozess ist, in dem der Sinn der eingesetzten Mittel im Verhältnis zu den konkreten Rahmenbedingungen überprüft wird,“ fasst Harold Bekkering das Ergebnis seiner nature-Studie zusammen. „Damit haben wir einen weiteren Beweis, dass Kleinkinder wirklich viel schlauer sind, als man denkt.“

Die neuen Erkenntnisse über das Nachahmungsverhalten von Kleinkindern haben auch Bedeutung für die Robotik, nachdem man inzwischen verstanden hat, dass man einem Roboter neues Verhalten auch beibringen kann, ohne dieses ihm vorher explizit einzuprogrammieren. Vielmehr lernt der Roboter auch dadurch, dass man ihm neues Verhalten vorführt und er versucht, dieses nachzuahmen. Dass er dabei auch Schlussfolgerungen anstellen sollte, ob es tatsächlich so zielführend ist, einfach nur nachzumachen, muss der Roboter im Rahmen eines europäischen Forschungsprojektes jetzt bei Harold Bekkering noch lernen.

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