Wo die Erinnerungen zu Hause sind…

Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Kuss? Oder wie Sie das Abitur bestanden haben? „Ja klar!“, werden Sie vermutlich antworten und vor allem auch daran denken, wie Sie sich damals gefühlt haben, ob es schön oder schrecklich, lustig oder traurig war. Anders als unser sachliches Wissen über die Welt verbinden sich unsere persönlichen Erinnerungen immer auch mit Stimmungen und Emotionen.

Wir merken uns nicht, in welcher Situation wir gelernt haben, dass Paris die Hauptstadt Frankreichs ist, aber unsere erste Reise nach Paris als Frischverliebte wird uns als romantisches Erlebnis noch sehr präsent sein – im so genannten autobiografischen Gedächtnis.

Unsere Biografie wird uns nicht in die Wiege gelegt. Sie entsteht erst im Laufe der Jahre – ebenso wie das autobiografische Gedächtnis. Ein wesentlicher Teil der Entwicklung des menschlichen Gehirns, wie etwa Wachstum und Reifung der neuronalen Netze, erfolgt erst nach der Geburt und unterliegt somit sozialen und kulturellen Einflüssen. Daher ist das autobiografische Gedächtnis ein ideales Forschungsfeld für Zusammenhänge zwischen neuronaler Entwicklung und sozial-kultureller Prägung. Ein interdisziplinär aufgestelltes Team um den Sozialpsychologen Professor Dr. Harald Welzer vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen im Wissenschaftszentrum NRW und den Neurowissenschaftler Professor Dr. Hans J. Markowitsch von der Universität Bielefeld stellte dementsprechend den sich erinnernden Menschen ins Zentrum seiner Forschung. Die Wissenschaftler des Projekts „Erinnerung und Gedächtnis“ – es wurde von der VolkswagenStiftung über einen Zeitraum von fünf Jahren mit 680.000 Euro gefördert – haben jetzt ihre Ergebnisse vorgelegt.

Wie funktioniert das autobiografische Gedächtnis? Wie stark ist es durch soziale Einflüsse geprägt, und wie verändert es sich im Laufe der Jahre? Diesen Fragen gingen die Wissenschaftler in mehreren Teilstudien mit Personen unterschiedlichen Alters nach. Sie kombinierten dabei verschiedene Erhebungsmethoden: Mit freien Interviews und standardisierten Gedächtnistests spürten sie den sozialen und kulturellen Dimensionen nach; bildgebende Verfahren dokumentierten, welche Hirnregionen aktiviert werden. Dies ermöglichte es, sowohl die subjektive Bedeutung als auch die neuronalen Entsprechungen zentraler Lebenserinnerungen in ihrer zeitlichen Entwicklung zu untersuchen.

„Das autobiografische Gedächtnis erlaubt es dem Menschen, Zeitreisen in die eigene Vergangenheit zu machen“, erklärt Harald Welzer. „Es gibt jedem das Gefühl, eine relativ einheitliche und kontinuierliche Persönlichkeit zu sein.“ Beim Abruf solch persönlicher Erinnerungen werden dabei andere Hirnregionen aktiviert als beim Abruf von Faktenwissen – so viel wurde vermutet. Was nun haben die Untersuchungen ergeben? Kurz gefasst: Das autobiografische Gedächtnis arbeitet je nach Lebensalter verschieden. Kleinkinder erinnern anders als Teenager, Oma und Opa anders als Erwachsene im mittleren Alter.

Die Tests an jungen Erwachsenen im Alter von 20 und 21 Jahren zeigten, wie sich Erinnerungen aus bestimmten Zeitphasen im Gehirn darstellen. Während die Testpersonen im Kernspintomographen lagen, wurden ihnen ihre persönlichen Erlebnisse vom Tonband vorgespielt, die sie in einem Interview erzählt hatten: aus dem Kindergartenalter, der Grundschulzeit, der Pubertät und der jüngsten Vergangenheit. Ergebnis: „Zum einen fanden sich Indizien dafür, dass das autobiografische Gedächtnis erst nach den ersten drei Lebensjahren entsteht – davor fallen alle Erlebnisse der so genannten kindlichen Amnesie zum Opfer“, erläutert Harald Welzer. Erinnerungen des bis dato letzten Lebensjahres bilden sich darüber hinaus – im Gegensatz zu frühen Erinnerungen aus dem Lebensalter von drei bis sechs Jahren – neuronal in einer bestimmten Region in der Mitte des Stirnhirns ab; erst nach dem sechsten Lebensjahr findet das autobiografische Gedächtnis offenbar zu einer stabilen Verarbeitungsform. Dieser Bereich des Kortex wird darüber hinaus beim Abruf von Fakten nicht aktiviert, scheint also spezifisch die eigene Biografie zu verankern. Die beiden Projektleiter messen diesem Befund hohe Bedeutung bei, da in der Forschung gegenwärtig noch Unklarheit über die neuroanatomische Identifizierung des autobiografischen Gedächtnisses besteht.

Die Untersuchungen mit 16-Jährigen machten zudem deutlich: In der Pubertät gleichen sich während des Erinnerns die Aktivierungsintensitäten des autobiografischen und des semantischen, für Sachwissen zuständigen Gedächtnisses. Das ist bemerkenswert, waren doch ichbezogenes und sachliches Wissen bei den jungen Erwachsenen Anfang 20 klar voneinander getrennt. Die Forscher erklären sich dieses Ergebnis dadurch, dass für die Jugendlichen die Wissensaneignung und die Ausbildung der Identität Hand in Hand gehen – der Aktivitätsunterschied zwischen den beiden Gedächtnissystemen verringert sich folglich. Die spezifische Speicherung der Erinnerungen im mittleren Stirnhirn scheint somit erst im jungen Erwachsenenalter voll entwickelt zu sein.

Ein weiteres Phänomen der altersspezifischen Gedächtnisverarbeitung hat mit der unterschiedlichen Erinnerungsdichte je nach Lebensphase zu tun: „Bei über 60-Jährigen zeigt sich, dass die Erlebnisse aus der Zeit des jungen Erwachsenenalters auf Hirnebene am stärksten Netzwerke aktivieren. Denkt man an die vergangenen zwei Jahre, so löst dies hingegen kaum Aktivität aus; gleiches gilt für die frühe Jugend und Kindheit“, fasst Markowitsch zusammen. Die Erinnerungen an die wichtige Zeit des Einstiegs ins Erwachsenenalter nehmen einen besonderen Stellenwert ein. Sie türmen sich zu so genannten Erinnerungsbergen, auch Reminiscence Bumps genannt. In diesem Alter tun Menschen vieles zum ersten Mal: Sie verlieben sich, ergreifen einen Beruf, ziehen zu Hause aus, heiraten ?Die Gefühle sind dabei als Gedächtnisverstärker aktiv. „Sie filtern, bewerten und heben hervor, was erinnert werden soll.“

Noch eine zweite Tendenz ließ sich beobachten: Je weiter die Erinnerung in der Vergangenheit liegt, desto mehr distanziert man sich von ihr auf der emotionalen Ebene. „Erinnerungen verändern sich mit jedem Abruf“, erklärt Markowitsch. Sie werden auf diese Weise auch resistenter gegenüber Veränderungen und Reflexionen. „Der ältere Mensch behandelt sie wie Faktenwissen und nicht mehr so sehr wie ein persönliches Erlebnis“, ergänzt Welzer. „Neurobiologisch gibt es demnach eine Erklärung dafür, warum Zeitzeugen eine Sicht auf die selbst erlebte Geschichte haben, die den historischen Fakten nicht unbedingt entspricht.“

Wie wir unsere Lebensgeschichte erzählen und bestimmte Ereignisse bewerten, verändert sich folglich im Laufe des Lebens durch ein Wechselspiel biologischer und sozialer Einflussfaktoren. Auch auf neuronaler Ebene spiegeln sich diese Verschiebungen wider. Ein von Welzer und Markowitsch entwickeltes interdisziplinäres, so genanntes bio-psychosoziales Modell des autobiografischen Gedächtnisses soll die Forschungsresultate bündeln: Es bildet sowohl die Prozesse der Gehirnreifung als auch die entstehenden Fähigkeiten des Erinnerns sowie altersspezifisch mögliche Wechselwirkungen ab.

Eine Frage jedoch haben die beiden Forscher bei ihrer Zusammenarbeit bewusst ausgeklammert, weil sie zwischen Sozialwissenschaftlern und Hirnforschern immer wieder zu Streit führt: Sind die neuronalen Aktivitäten Spiegel oder Ursache psychischer Erlebnisse? „Unsere Grundregel Nummer eins war: Nie über Grundsätzliches sprechen“, erklären beide Projektleiter einhellig. So konzentrierte sich die Gruppe stattdessen pragmatisch darauf, empirische Bezüge zwischen Hirn und Psyche auszuloten, und konnte auf diese Weise eine ganze Reihe neuer Einsichten gewinnen.

Literatur:
Markowitsch, Hans J. & Welzer, Harald:
Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung.

Stuttgart: Klett-Cotta, 2005, 302 Seiten, ISBN: 3608944060

Welzer, Harald & Markowitsch, Hans J (Hg.).:
Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte der interdisziplinären Gedächtnisforschung.

Stuttgart: Klett-Cotta, 2006, 348 Seiten, ISBN: 3608944222

Kontakt
VolkswagenStiftung
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Dr. Christian Jung
Telefon: 0511 8381 380
E-Mail: jung@volkswagenstiftung.de
Kontakt Projekt
Wissenschaftszentrum NRW
Kulturwissenschaftliches Institut Essen
Prof. Dr. Harald Welzer
Telefon: 02 01/72 04 211
E-Mail: harald.welzer@kwi-nrw.de
Prof. Dr. Hans J. Markowitsch
Tel.: 04 221/91 60 213
E-mail: hjmarkowitsch@uni-bielefeld.de

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