Einzelneuronen als Wahrnehmungsspeicher

Tübinger Max-Planck-Forscher entdecken, dass unsere Wahrnehmung von Unterscheidungsmerkmalen durch einzelne Neuronen gesteuert wird

Wahrnehmen will gelernt sein. Der Mensch erkennt seine Umwelt, macht über seine Wahrnehmung Erfahrungen und diese Erfahrungen bestimmen wiederum seine Wahrnehmung. Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Hirnforscher fragen sich vielmehr, wie unterschiedliche Informationen im Gehirn integriert und nach welchen Prinzipien wahrgenommene Objekte im Gehirn repräsentiert werden. Tübinger Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik konnten jetzt erstmals experimentell nachweisen, dass einzelne Nervenzellen im Gehirn für die Steuerung unserer Wahrnehmung durch Vorwissen verantwortlich sind. Sie berichten über ihre Ergebnisse in der neuesten Ausgabe der Fachzeitschrift „nature“ (17. Januar 2002).

Wie wir Objekte wahrnehmen, hängt von den Erfahrungen ab, die wir bereits mit ihnen gemacht haben. Was für den einen nichts anderes als ein „Vogel“, ist für Ornithologen ganz offensichtlich eine Amsel, eine Drossel, ein Fink oder ein Star. Das Fach- oder Expertenwissen schärft unsere Fähigkeit, auf Details zu achten. Je mehr wir über Objekte gelernt haben, je vertrauter sie uns sind, desto mehr Details erkennen wir.

Eine Forschergruppe am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen hat nun untersucht, was im Gehirn genau vor sich geht, wenn wir uns mit Objekten vertraut machen. Dazu brachten die Forscher einigen Rhesusaffen bei, Objekte nach bestimmten Eigenschaften einzelnen Kategorien zuzuordnen. Affen sind Meister bei einer Vielzahl visueller Unterscheidungsaufgaben und ihr Gehirn funktioniert beim Sehen sehr ähnlich wie das des Menschen. Sie sind somit ideale Kandidaten für derartige Studien.

Waren nun die Tübinger Rhesusaffen „bei der Arbeit“, beobachteten die Wissenschaftler die Aktivität von Neuronen in einem ganz speziellen Gehirnbereich, dem „inferior temporal cortex“(ITC), von dem man heute weiß, dass er für die Objekterkennung zuständig ist. Die Grundfrage der Forscher lautete: Wie wirkt sich nun ein spezielles Trainingsprogramm zur Kategorisierung von Objekten darauf aus, wie diese konkret im Gehirn repräsentiert werden? Dazu zeigten die Forscher den Affen hintereinander eine Serie von Strichzeichnungen mit Gesichtern (oder anderen Objekten wie Fischen) auf einem Computerbildschirm. Die Gesichter beispielsweise bestanden aus dem Umriss des Kopfes und insgesamt vier variablen Merkmalen: der Höhe der Augen, dem Augenabstand, der Länge der Nase und der Höhe des Mundes. Jedes dieser Merkmale konnte in drei verschiedenen Varianten vorliegen; die Nase konnte also beispielsweise kurz, mittellang oder lang sein. Die Affen wurden nun darauf trainiert, zwei Arten von Gesichtern zu unterscheiden: In der einen Kategorie hatten alle gezeigten Gesichter eine niedrige Augenhöhe und einen großen Augenabstand, in der anderen eine hohe Augenhöhe und einen kleinen Augenabstand. Die beiden Merkmale „Augenabstand“ und „Augenhöhe“ dienten also der Festlegung der Kategorien. Die anderen beiden Merkmale, also Nasenlänge und Mundhöhe, variierten bei allen Gesichtern nach dem Zufallsprinzip, waren also für die Einteilung in die Kategorien irrelevant (s. Abbildung).

Bei diesen Tests stellten die Max-Planck-Wissenschaftler fest, dass tatsächlich einzelne Neuronen im besagten Hirnbereich auf die beiden Merkmale „Augenhöhe“ und „Augenabstand“ reagierten. Die Aktivität dieser Neurone war deutlich stärker, wenn diese beiden „relevanten“ Merkmale den zu der Kategorie passenden Wert hatten. Die spezialisierten Neuronen hatten also „gelernt“, die beiden Kategorien zu unterscheiden. Die beiden anderen Merkmale „Nasenlänge“ und „Mundhöhe“ ließen diese Neuronen kalt. Die besagten Neuronen repräsentieren also nicht nur das Vorhandensein eines bestimmten Objekts oder eines bestimmten Merkmals. Sie tragen vielmehr ganz detaillierte Informationen über jene Merkmale, die für die beiden Kategorien entscheidend sind.

Darüber hinaus konnten die Tübinger Wissenschaftler zeigen, dass die Affenhirne diese in dem Versuch gelernten Merkmale auch wirklich zur Objekterkennung verwenden. In der Tat waren die Tiere nach dem Training in der Lage, Gesichter mit den gelernten Merkmalen einander zuzuordnen.

Aus ihren Arbeiten folgern die Tübinger Hirnforscher, dass es offensichtlich einzelne Neuronen gibt, die die Empfindlichkeit der Wahrnehmung schärfen, wenn sie in einem bestimmten Kontext trainiert werden. Dieses erlernte „Schubladendenken“, also das Einteilen der Welt nach gelernten Kategorien, ist letztlich dafür verantwortlich, wie wir unsere visuell wahrgenommene Umwelt im Gehirn kodieren und diese Wahrnehmung dann interpretieren.

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Prof. Dr. Nikos Logothetis Presseinformation

Weitere Informationen:

http://www.mpg.de/index.html

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