Wenn Kinder sich ärgern. Wie entwickelt sich die Ärgerregulierung bei Kindern?

Na, heute schon geärgert? Jeder erlebt es täglich (statistisch gesehen mindestens einmal), dieses Gefühl des Ärgers, das unsere Gesichtszüge, unsere Stimmlage und u.U. auch unsere Gebärden manchmal entgleisen lässt. Wir kennen 1001 Anlässe, uns mehr oder weniger heftig aufzuregen, mindestens genauso viele mehr oder weniger geeignete Möglichkeiten, den Dampf wieder abzulassen, aber auch die körperlich und psychisch belastenden Folgen, wenn unser Dampf kein geeignetes Ventil findet. Bei Kindern sieht das grundsätzlich ähnlich aus. Da kennen wir z.B. die berühmt-berüchtigte „Trotzphase“, während derer auch noch so – aus Erwachsenensicht – nichtige Anlässe zu Wutanfällen gereichen. Diese verlangen selbst den geduldigsten Eltern und Erziehern ein gerütteltes Maß an Selbstbeherrschung ab und treiben die Auflagenzahlen ratgebender Literatur in die Höhe. Wie in dieser und den anderen kindlichen Lebensphasen Ärger entsteht, erlebt, ausgedrückt und verarbeitet (reguliert) wird, das hat Maria von Salisch, Privatdozentin am Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie der Freien Universität Berlin, in einem Projekt untersucht. In ihrem Buch „Wenn Kinder sich ärgern“ stellt sie ihre eigenen Forschungsergebnisse vor und setzt sie mit anderen Theorien, Modellen und Studien in Beziehung. So ist ein komplexer und zugleich differenzierter Überblick über das Thema „Ärgerregulierung bei Kindern“ gelungen.

Ausgangspunkte der Betrachtung sind das „Konzept der Darbietungsregeln“ (vgl. Maria von Salisch, „Der Gesichtsausdruck ist die Botschaft“, in: Wissenschaftsmagazin der Freien Universität Berlin, fundiert 02/2001, S. 16ff.), wonach der äußerliche Gefühlsausdruck entsprechend kultureller und sozialer Regeln moduliert wird, sowie das „Konzept der Bewältigung“, das die innere Verarbeitung – besonders die Verkleinerung – der Gefühle hervorhebt. Zusammengefasst sind diese Konzepte im Begriff der „Emotionsregulierung“, definiert als Strategien, den Gefühlsimpuls in Ausdruck, Erleben oder Physiologie umzuformen, und zwar sowohl im Umgang mit anderen als auch mit sich selbst, bezogen auf unterschiedliche Bereiche und Zeitpunkte.

Warum nun macht Maria von Salisch aus dem vielfältigen Kanon des Gefühlslebens ausgerechnet den Ärger zum Gegenstand ihrer Überlegungen und Studien? Als wichtigste Gründe nennt sie die fundamentale Bedeutung für das menschliche Miteinander und die Tatsache, dass Ärger die häufigst empfundene Emotion ist. Dabei steht der Ärger über andere Personen im Vordergrund, den wir besonders dann erleben, wenn wir uns durch diese Personen blockiert oder gekränkt fühlen bzw. wir sie für andere Regelverletzungen verantwortlich machen. Als extremste Ausdrucksformen nicht regulierten Ärgers kennen wir Amokläufe. Auch andere mehr oder weniger aggressive Rache- und Vergeltungsakte sind uns geläufig. Die erfolgreiche Ärgerregulierung ist also besonders wichtig für positive zwischenmenschliche Beziehungen und für ein funktionierendes Gemeinwesen. Auch unsere individuelle Gesundheit leidet, wenn wir unseren Ärger häufig entweder in Form von Feindseligkeit oder depressiver Verstimmung (er-)leben. Wie aber nun – und das ist eine der zentralen Fragen – entwickeln sich im Laufe der Kindheit diese Fähigkeiten, Ärger zu regulieren? Unter welchen Umständen werden sie gelernt?

Verschiedene Beobachtungen und Studien legen nahe, dass Säuglinge etwa ab dem 2. Lebensmonat Ärger ausdrücken können. Sie setzen vor allem den Protest ein, um ihr Ziel zu erreichen. Die rasante neurologische und motorische Entwicklung in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres produziert einerseits vermehrt Ärgeranlässe, ermöglicht andererseits aber auch neue Strategien zur Ärgerregulierung, die die Kinder sich z.T. von ihren erwachsenen Betreuungspersonen „abgucken“. Häufigere Wutanfälle in der sog. „Trotzphase“ werden durch die Gedächtnisentwicklung begünstigt. Die Kinder erinnern sich an frühere Ärgersituationen und steigern sich dadurch in die aktuelle hinein. Ab etwa dem 3. Lebensjahr entwickeln die Kinder auch zunehmend ein Regelverständnis. Die Kinder empfinden das dadurch häufig hervorgerufene Schamgefühl eher schmerzhaft und überspielen es mit Wut. Zur gleichen Zeit setzt auch die Fähigkeit ein, über Gefühle zu sprechen. Sowohl die Häufigkeit als auch die Art gefühlsbezogener Gespräche in Familien haben Einfluss darauf, wie die Kinder Ärger erleben und regulieren.

Ab dem Vorschulalter gewinnen die Beziehungen zu älteren Geschwistern und etwa gleichaltrigen Kindern eine größere Bedeutung. Die Kinder lernen sich gegenseitig abzustimmen, vor allem Regeln und Lösungen für Spiele und andere soziale Situationen auszuhandeln. Die zunehmenden verbalen Fähigkeiten und das Wissen über verschiedene Aspekte des Ärgers, wie frustrierende Erlebnisse, Absichten des Verursachers oder Folgen aggressiven Verhaltens, lassen die Kinder ihren Ärger differenzierter bewerten, erleben und regulieren.

Wie Kinder im Schulalter Ärger er- und ausleben, haben Maria von Salisch und ihre Mitarbeiterinnen in ihrem Projekt selbst untersucht. Sie ließen die Kinder Ärgertagebücher führen, setzten ein teilstandardisiertes Ärger-Folgen-Interview sowie einen eigens entwickelten Fragebogen KÄRST (kindliche Ärgerregulierungsstrategien) ein, der das Ärgerverhalten gegenüber Freunden erfasst. Dabei fanden sie als wesentliche Ergebnisse heraus, dass konfrontierendes oder schädigendes Verhalten eher die Ausnahme ist. Ebenso deutlich ergab sich , dass ältere Kinder häufiger die Strategie wählen, sich äußerlich oder innerlich von Ärger verursachenden Freunden abzuwenden oder „cool“ zu bleiben, sich also den Ärger nicht anmerken zu lassen. Überhaupt lernen Kinder mit zunehmendem Alter mehr Strategien, unerwünschte Formen des Ärgerausdrucks zu „maskieren“. Dabei spielen allerdings die Art der Beziehung und das Vertrauen zum Verursacher eine wichtige Rolle.

Natürlich interessiert auch die Frage, inwieweit sich Mädchen und Jungen darin unterscheiden, Ärger zu erleben und zu regulieren. Tatsächlich bedienen die Ergebnisse z.T. die gängigen Klischees. Zwar berichten Jungen und Mädchen etwa gleich häufig sozial bedingten Ärger, doch neigen Mädchen eher dazu, das Ausmaß ihres Ärgers vor dem Verursacher zu verbergen. Dies ließe sich u.a. damit begründen, dass Mädchen eher negative Folgen erwarten, wenn sie ihren Ärger offen ausdrücken, und dass sie diesen häufiger negativ oder als unberechtigt bewerten. Diese Ergebnisse könnten auch erklären, warum Jungen häufiger konfrontierendes oder schädigendes Verhalten bzw. Rachegedanken äußern. Eher unerwartet ergab sich, dass Jungen eher dazu neigen, den Verursacher ihres Ärgers bei anderen anzuschwärzen bzw. ihn aus dem Gruppengeschehen auszuschließen.

Die Autorin widmet sich auch dem aus pädagogischer, psychologisch-therapeutischer und gesellschaftlicher Sicht spannenden Zusammenhang zwischen Selbstwertgefühl und Ärger. Dabei stellt sie fest, dass Kinder mit schwachem oder labilem Selbstwert sich sowohl häufiger als auch stärker ärgern, was sich z.T. auch in verstärkter Aggressivität – besonders bei Jungen – niederschlägt. Selbstwertschwache Kinder greifen bei Ärger auch eher zu Chips und Cola oder ähnlichen Tröstern. Dagegen verbergen Kinder mit starkem Selbstwertgefühl überraschenderweise eher ihren Ärger und distanzieren sich.

In ihrem Ausblick präsentiert Maria von Salisch ein integratives Modell. Darin fasst sie die bisherigen Erkenntnisse darüber zusammen, wie zwischenmenschliche Prozesse die intrapsychischen Emotionskomponenten beeinflussen, und stellt das Ganze in einen konzeptuellen Rahmen und in Bezug zur Altersentwicklung. Am Ende kommt Maria von Salisch zu dem Schluss, dass ihre und andere Untersuchungen doch mehr neue Fragen aufwerfen als sie beantworten. So sollten individuelle Faktoren, wie z.B. Temperament, körperliche Befindlichkeiten oder Selbstkonzept, näher beleuchtet werden, ebenso zwischenmenschliche Einflussgrößen, wie z.B. elterliches Gesprächs- und Erziehungsverhalten oder die vielfältigen Beziehungen zu Gleichaltrigen. Also nicht nur 1001 Ärgeranlässe, sondern auch ebenso viele Forschungsanlässe und Fragen, die nicht nur von rein wissenschaftlichem Interesse sind.

von Nicola Kampa

Literatur:
Maria von Salisch: Wenn Kinder sich ärgern. Emotionsregulierung in der Entwicklung, Göttingen/Bern/Toronto/Seattle: Hogrefe-Verlag, 2000, ISBN: 3-8017-1088-2

Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
PD Dr. Maria von Salisch, Institut für Psychologie der Freien Universität Berlin, Tel.: 030 / 838-55845, E-Mail: msalisch@zedat.fu-berlin.de

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