Neuer Sonderforschungsbereich untersucht Folgen des Systemumbruchs in Ostdeutschland

Einen neuen Sonderforschungsbereich hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) für die Friedrich-Schiller-Universität bewilligt. Das Großforschungsvorhaben ist perspektivisch auf zehn bis zwölf Jahre angelegt und untersucht die Auswirkungen – insbesondere die Langzeitfolgen – des Gesellschaftswandels in Ostdeutschland nach der politischen Wende 1989/90. Für die erste, dreijährige Bewilligungsphase stellt die DFG insgesamt rund sechs Millionen Mark zur Verfügung. Der SFB 1811 mit dem Titel „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung“ umfasst zunächst zehn Teilprojekte, von denen zwei sich noch in einer Nachantragsphase befinden, und wird gemeinsam mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg getragen.

„Lange Zeit glaubte man, das westdeutsche Sozialsystem werde nach der politischen Vereinigung der beiden Teilstaaten binnen kürzester Zeit auf Ostdeutschland eins zu eins übertragbar sein und entsprechend funktionieren“, erläutert der Jenaer Soziologe Prof. Dr. Rudi Schmidt als Sprecher des neuen SFB. „Das war aber ein verhängnisvoller Irrtum.“ Vielmehr werde nun offenkundig, dass viele der neuen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen in Ostdeutschland bei weitem nicht dieselbe Akzeptanz genießen wie im Westen. Schmidt: „Besonders deutlich wird das etwa bei den Gewerkschaften, Arbeitgeber-Verbänden oder bei Wohlfahrtseinrichtungen.“

Schmidt und seine Forscherkollegen in Jena und Halle werden nun in einem umfassenden Ansatz die stattgehabten Transformationsprozesse analysieren, den Ist-Stand bewerten und Prognosen für die Zukunft treffen. „Klar ist, dass diese Transformationsprozesse sehr lange dauern und dass es eine völlig deckungsgleiche Übernahme des westdeutschen Systems auf absehbare Zeit nicht geben wird“, so Schmidt weiter, „vermutlich werden wir in manchen Bereichen einen ,Dritten Weg’ haben.“

Soziologen, Politikwissenschaftler, Ökonomen, Juristen und Historiker arbeiten bei diesem grundlegenden Forschungsansatz in drei Schwerpunkten interdisziplinär zusammen: Der erste Projektbereich „Struktur und Handlungsorientierung von Führungsgruppen“ befasst sich mit den Funktionseliten in Ostdeutschland, die sich zum großen Teil noch aus dem alten Führungspersonal der ehemaligen DDR rekrutieren. „Das ist ganz wesentlich für die Akzeptanz in der Bevölkerung“, so Schmidt, „allerdings wird es hier innerhalb dieses Jahrzehnts einen Generationenumbruch geben, weil die meisten dieser Führungskräfte dann das Rentenalter erreichen.“

Der zweite Projektbereich ist ganz dem Themenfeld „Beschäftigung und Arbeitsmarkt“ gewidmet; Schmidt: „Wir müssen nicht das alte Schlagwort von den ,blühenden Landschaften’ bemühen, um zu erkennen, dass die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen längst nicht die erhoffte Wirkung erzielt haben.“ Vielmehr klaffe inzwischen die Ost-West-Schere wieder weiter auseinander als noch zu Ende der 90er Jahre. Im dritten Projektbereich geht es um „Akteure und Institutionen im sozialen Sektor“, womit zum Beispiel das Gesundheitswesen, das Umfeld von Familie und Erziehung, aber auch die politische Kultur und das bürgerschaftliche Engagement gemeint sind.

Wesentlich für die Vergabe des neuen Sonderforschungsbereichs nach Jena war die erfolgreiche Arbeit einer Wissenschaftler-Gruppe um Prof. Rudi Schmidt und Prof. Burkart Lutz (Halle) für die „Kommission zur Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den Neuen Bundesländern“ (KPSW) von 1992-96. „Wir haben aber bereits damals festgestellt, dass damit der wissenschaftliche Erkenntnisbedarf bei weitem noch nicht gedeckt ist, sondern dass wir die gesellschaftlichen Umbrüche weiter begleiten müssen“, erläutert Schmidt. „Umso mehr freue ich mich, dass die DFG unsere Auffassung teilt und uns mit dieser voluminösen Projektbewilligung die Möglichkeit dafür schafft.“ Für die Friedrich-Schiller-Universität bedeutet der „warme Regen“ aus Bonn einen erheblichen Renommée-Gewinn und eine spürbare Erweiterung des Personalbestands aus Drittmitteln. Schmidt rechnet derzeit mit rund 20 neuen Wissenschaftlerstellen.

Mit dieser Neubewilligung gibt es an der Universität nunmehr fünf DFG-Sonderforschungsbereiche: Die SFBs „Bio- und Modellmembranen“ in Biologie und Medizin, „Physik und Chemie optischer Schichten“, „Metallvermittelte Reaktionen nach dem Vorbild der Natur“ in der Chemie sowie „Ereignis Weimar – Jena. Kultur um 1800“ mit einem Schwerpunkt in den Geisteswissenschaften wurden bereits vor einigen Jahren ins Leben gerufen und müssen sich – wie üblich – alle drei Jahre mit Fortetzungsanträgen einer Evaluation durch die DFG stellen.

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Rudi Schmidt
Friedrich-Schiller-Universität Jena, derzeit als Gastwissenschaftler an der Universität Lyon.
Tel.: 0033 47 2001950, Fax: 0033 47 2001999, E-Mail: Schmidt@soziologie.uni-jena.de

Friedrich-Schiller-Universität Jena
Dr. Wolfgang Hirsch
Referat Öffentlichkeitsarbeit
Fürstengraben 1
D-07743 Jena
Telefon: 03641 · 931030
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