Stochastische Geometrie im geographischen Raum und unter dem Mikroskop

Eine mathematische Universalmethodik im Dienst unterschiedlichster Disziplinen

Was verbindet eine Momentaufnahme der Fahrgeschwindigkeitsverteilung in ausgewählten Verkehrsräumen mit der computergestützten Auswertung histologischer Schnitte oder der Statistik der räumlichen Anordnung von Wurzeln des Waldbodens innerhalb der Fläche eines definierten vertikalen Erdschnittes? – Die Stochastik, die auf der Wahrscheinlichkeitstheorie beruhende Betrachtung statistischer Gesamtheiten. Hier genauer: die stochastische Geometrie und räumliche Statistik, beides neuere Teilgebiete der angewandten Mathematik. Seit einigen Jahren werden deren Methoden an der Universität Ulm in dem Projekt »GeoStoch« eingesetzt und weiterentwickelt. In einer interdisziplinären Arbeitsgruppe der Abteilungen Stochastik und Angewandte Informationsverarbeitung der Universität Ulm, geleitet von den Professoren Dr. Volker Schmidt und Dr. Franz Schweiggert, gehen Mathematiker und Informatiker unterschiedlichen Fragestellungen nach, teilweise in Kooperation mit naturwissenschaftlichen und medizinischen Abteilungen der Universität.

Was ist, was leistet stochastische Geometrie? Mit der sogenannten klassischen Geometrie, ihren ebenen und räumlichen Gebilden, den Berechnungen von Längen, Flächen und Volumina ist jeder schon mehr oder weniger ausführlich in Berührung gekommen. Die geometrischen Formen, die hierbei betrachtet und berechnet werden, sind durch bestimmte Regelmäßigkeiten chrakterisiert. Demgegenüber gibt es in unserer biologischen wie auch technisch-artifiziellen Umwelt eine Fülle geometrischer Formen, die weder voraussehbar noch vorausbestimmbar sind, sondern – unter Umständen zeitbezogen – vom Zufall abhängen. So etwa die Strukturen von Knochen oder Zellen: zwei gleichartige und funktionsidentische Zellen müssen noch lange nicht identisch geformt sein. Die stochastische Geometrie hält ein Instrumentarium bereit, mittels dessen die Beschreibung, Analyse und gegebenenfalls Vorhersage solcher Strukturen ermöglicht werden. Dank ihres hohen Abstraktionsgrades eignen sich die mathematischen Modelle sowohl für die Auswertung bzw. Konfiguration mikroskopischer Bilddaten, z.B. von biologischen Zellstrukturen oder der Feinstruktur von Werkstoffen, als auch makroskopischer Daten, mit deren Hilfe sich beispielsweise Verkehrsflüsse in definierten geographischen Räumen anhand von Geschwindigkeitsparametern zu bestimmten Zeitpunkten erkennen, beschreiben und im Wege der Extrapolation für vergleichbare zukünftige Zeitpunkte vorhersagen lassen. Graphisch ergeben die Geschwindigkeitsverteilungen charakteristische kaleidoskopartige Bilder. In der praktischen Konsequenz zielt die Auswertung dieser Abbilder des Verkehrsgeschehens in definierten geographischen Räumen auf die Vorhersagbarkeit von Staubildungen im Straßenverkehr und ihrer Ausbreitungsmechanismen.

Die Arbeitsgruppe von Schmidt und Schweiggert sucht nach robusten Modellen für die zuverlässige Vorhersage von Reisezeiten bzw. Staugebieten in großstädtischen Ballungsräumen. Hierzu wurden in Berlin 300 Taxen mit GPS-Sendern ausgestattet, die in gewissen Zeitabständen ihre Position sowie ihre Fahrgeschwindigkeit an eine zentrale Stelle senden. Im Zeitraum von Oktober 2001 bis Februar 2002 erwuchs hieraus ein Datenbestand mit mehr als 13 Millionen Einträgen, der mit Methoden der stochastischen Geometrie und räumlichen Statistik ausgewertet werden kann. Höhere Geschwindigkeiten zeigen Durchlässigkeit des Verkehrsraumes und ungestörtenVerkehrsfluß an, langsamere Geschwindigkeiten (bis hin zum Stillstand) den potentiellen bzw. eingetretenen Stau. Die Entstehung von Staus wird durch mehrere Faktoren ausgelöst. Dabei spielen Fahrtrichtung der Fahrzeuge und lokale Gegebenheiten des Straßennetzes eine wichtige Rolle. Die statistischen Gesetzmäßigkeiten, die den Daten zugrunde liegen, sind also im allgemeinen sowohl orts- als auch richtungsabhängig. Diese Faktoren müssen bei der statistischen Analyse und Bearbeitung der Daten berücksichtigt werden.

Gemeinsam mit ihren Kooperationspartnern vom Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Berlin gehen die Forscher unter anderem der Frage nach, wie Staugebiete flächig, das heißt kartographisch erfaßt werden können, wenn der aktuelle Verkehrszustand von Testfahrzeugen jeweils nur punktuell gemessen wird und die Geschwindigkeitswerte zunächst nicht für das gesamte Gebiet vorliegen. Aus den punktuell beobachteten Meßwerten muß unter dieser Voraussetzung das Geschwindigkeitsfeld statistisch geschätzt werden. Im weiteren Verlauf des Projektes sollen mit dynamischen Simulationsalgorithmen (nach der sogenannten Markov-Chain-Monte-Carlo-Simulation) Methoden entwickelt werden, mittels deren sich Raum-Zeit-Modelle mit den aus der Extrapolation der Meßpunkte gewonnenen flächigen Geschwindigkeitsfeldern in Übereinstimmung bringen lassen.

Parallel zu den mathematischen Modellen und Methoden wird nach Wegen für die praktische Umsetzung mit Hilfe des Computers gesucht. Im Laufe der Jahre entstand so ein umfangreiches Softwaresystem. Bei der Entwicklung der Software wurde sowohl auf die Einbeziehung effizienter Algorithmen als auch die Anwendung neuester Komponenten-basierter Techniken geachtet. Das macht die Software disponibel: sie läßt sich verhältnismäßig problemlos an neue Projekte adaptieren. Im Rahmen der Erfordernisse für die einzelnen Teilprojekte wird die Software, die in der Programmiersprache Java entwickelt und zu einem Großteil als Bibliothek konzipiert ist, kontinuierlich dem neuesten Stand der Forschung angepaßt.

Die Methoden der stochastischen Geometrie und räumlichen Statistik eignen sich derart nicht nur zur Auswertung von geographischen Bilddaten. In Kooperation mit Prof. Dr. Marian Kazda (Abteilung Systematische Botanik und Ökologie der Universität Ulm) bearbeitet die Forschungsgruppe ein Projekt zur statistischen Analyse der räumlichen Anordnung von Wurzeln im Waldboden. An vertikalen Erdschnitten werden die einzelnen Wurzeln entsprechend ihrer Spezies-Zugehörigkeit markiert und ihre Anordnung photographisch dokumentiert. Von biologischem Interesse ist, ob die Wurzelanordnung bestimmten Strukturbildungen unterliegt, unter welchen Bedingungen sich gegebenenfalls welche Strukturen ausbilden, wodurch sie charakterisiert sind, welchen statistischen Gesetzmäßigkeiten sie folgen und welche anderen Vegetationsparameter mit diesen Befindlichkeiten korrelieren. Sind die Wurzeln eher gleichmäßig verteilt, stoßen sie sich gegenseitig ab oder treten sie gehäuft auf? Diese und ähnliche Fragen lassen sich sehr gut mit den Methoden der stochastischen Geometrie und räumlichen Statistik beantworten. Die dadurch gewonnenen Einsichten tragen zu einem besseren Verständnis der biologischen Prozesse im Waldboden bei.

Wie in der makroskopischen Dimension geographischer Räume und im mesoskopischen Erdschnitt sind die stochastischen Methoden und Modelle auch in der mikroskopischen Welt brauchbar. Zusammen mit dem Pathologen Prof. Dr. Torsten Mattfeldt (Abteilung Pathologie der Universität Ulm) arbeiten Schmidt, Schweiggert und ihre Gruppe an der stochastischen Modellierung und Analyse mikroskopischer Bilder von Prostata-Gewebe. Das Fernziel dieser Arbeiten besteht darin, die Auswertung histologischer Schnitte computergestützt durchführen und damit den Pathologen von Routine entlasten zu können.

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