Der aufrechte Gang – eine Konsequenz des Nahrungsmangels?

Sind unsere Urahnen wirklich von den Bäumen herabgestiegen? Nach einer neuen Evolutionstheorie spricht verblüffend vieles dafür, dass die Vorfahren des Homo sapiens schon früh Bäume, Uferbereiche und Savanne gleichzeitig als Lebensraum nutzten. In seinem „Theorem von der ubiquitären Energieknappheit“ setzt sich der Anthropologe Prof. Carsten Niemitz vom Institut für Biologie der Freien Universität Berlin kritisch mit den bisherigen Theorien auseinander und stellt eine neue auf – die der „Amphibischen Generalisten“.

Als in Ostafrika die Dschungelwälder von sich ausbreitenden Savannengebieten mehr und mehr zurückgedrängt wurden, boten die Galeriewälder an den Wasserläufen nicht mehr ausreichend Nahrung. Um überleben zu können, waren unsere Primatenvorfahren gezwungen, mehrere Lebensräume (Habitate) gleichzeitig zu nutzen. Tagsüber durchstreiften sie ihr Revier in der Savanne, in der Nacht dienten ihnen Bäume als sichere Schlafplätze. Die zunehmend lebensnotwendigen tierischen Proteine fanden sie zu jeder Jahreszeit in den flachen Uferbereichen von Flüssen und Seen.

Zahlreiche anatomische und verhaltensbiologische Erkenntnisse sprechen für diese Theorie. So waten Primaten beispielsweise auf den Hinterbeinen durch das Wasser, um Krebse und andere Tiere zu erbeuten. Dabei ist es energetisch von Vorteil, wenn die Hinterextremitäten länger sind. Während Vierfüßer wie Pferde oder Hunde vorne schwerer sind und nicht waten können, sinken Tierprimaten im Wasser auf die Hinterbeine zurück und richten sich auf. Letztlich entwickelte sich der aufrechte Gang also als Konsequenz der Position des Körperschwerpunktes. Verschiedene anatomische Anpassungen der Vorder- und Hinterextremitäten erleichterten den häufigen Wechsel der Habitate.

Der verbreiteten Theorie, wonach sich unsere Vorväter aufgerichtet haben, um in der Savanne weiter sehen zu können, setzt Niemitz entgegen, dass dies eher unvorsichtig und daher als Grund nicht stichhaltig ist, denn: wer groß genug ist um weit zu sehen, ist auch selbst gut zu erkennen – von hungrigen Löwen beispielsweise. Nach dem „Ausblick“ wieder auf vier Füße zu gehen – wie es die Tierprimaten tun – hilft, in der Wildnis zu überleben. Die Frage lautet nach Niemitz nicht: Warum haben wir uns aufgerichtet, sondern: Warum sind wir anschließend stehen geblieben?

Erstaunlich ist auch, dass der Mensch – obwohl er über einen ausgeprägten Gehfuß verfügt – kein „Gehspezialist“ geworden ist. Er ist das einzige Säugetier, das sowohl energiesparend über große Strecken wandern als auch kurze Strecken schnell laufen, schwimmen und ohne spezielles Training zwei Meter tief tauchen kann. Makaken hingegen haben keine ausgeprägten Gehfüße, können jedoch auf vier Beinen mit einer Geschwindigkeit von 40 Kilometern pro Stunde galoppieren. Die menschliche Zweibeinigkeit (Bipedie) hat sich in der Evolution also etabliert, nicht weil wir mit unseren langen Beinen schneller wären, sondern obwohl wir sprintend deutlich langsamer sind als die bei Gefahr flink davonschießenden viel kleineren Affen.

Auch was das Greifen angeht ist der Homo sapiens eher ein Generalist. Die Theorie, wonach wir uns von den Tierprimaten dadurch unterscheiden, dass wir eine „kreative Hand“ zur Feinmanipulation haben und für diese Tätigkeiten aufstanden, lässt sich ebenfalls widerlegen. Zum einen verrichten wir komplizierte „Handarbeiten“ bevorzugt im Sitzen – wie Tierprimaten und Affen übrigens auch. Zum anderen sind die Hände von Menschenaffen anatomisch an deren spezielle Bedürfnisse angepasst. Sie differenzierten sich erst nach der Aufspaltung von Menschenaffen und Menschen vor etwa sechs bis acht Millionen Jahren und sind, stammesgeschichtlich gesehen, in vielen Merkmalen „moderner“. Im Gegensatz dazu ist unsere Hand vergleichsweise „primitiv“; vornehmlich unser Gehirn macht die Überlegenheit der menschlichen Hand aus.

Was folgt aus der neuen Theorie? Unsere Vorfahren sind nicht von den Bäumen geklettert, denn sie haben vermutlich immer auch schon am Boden gelebt. Sie fingen an, aufrecht watend im Flachwasser zu gehen, weil sie sonst schlicht verhungert wären. Seither existiert die Affinität zu Gewässern und Ufern; sie ist stammesgeschichtlich bedingt und uns bis heute erhalten geblieben.
Wie seine äffischen Vorfahren auch ist der Homo sapiens kein Spezialist, sondern ein ökologischer Generalist, ein Allesesser und ein Nutzer einer Vielzahl möglicher Habitate und Biotopformen. Die Evolution des aufrechten Menschen hat nicht einen, sondern eine ganze Reihe von Gründen, welche die neue Theorie gemeinsam berücksichtigt.

Catarina Pietschmann


Nähere Informationen gibt Ihnen gern:
Univ.-Prof. Dr. Carsten Niemitz, Fachbereich Biologie-Chemie-Pharmazie, Institut für Biologie (Anthropologie und Humanbiologie), Fabeckstr. 15, 14195 Berlin-Dahlem, Telefon: 030 / 838-52900, Fax: 030 / 838-56556, E-Mail: cniemitz@zedat.fu-berlin.de

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