Krisen auf Distanz halten
Ehemaliger Generalinspekteur Klaus Naumann erstellt Gutachten im Auftrag der Bertelsmann Stiftung
Bundeswehr und NATO sind auf die neuen militärischen Herausforderungen, die sich aus der sicherheitspolitischen Situation nach den Terroranschlägen vom 11. September ergeben, strategisch nicht ausreichend eingestellt. Unabhängig von der Zusammensetzung der neuen Regierung müsse nach der Bundestagswahl die Ausrichtung und Planung der Bundeswehr in Teilen überarbeitet werden. Dies ist das Fazit eines Gutachtens, das der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und frühere Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Klaus Naumann, im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erarbeitet hat.
Durch die neue Lage sind nach Auffassung Naumanns auch einige der Vorschläge der „Weizsäcker-Kommission“ zur Reform der Bundeswehr faktisch überholt. So müsse ein integriertes Schutzkonzept für alle Sicherheitskräfte erarbeitet werden. Die Abwehr von Angriffen, die nicht von fremden Streitkräften ausgingen, müssten danach unter Führung des Innenministeriums geplant und koordiniert werden. Die Bundeswehr könne dabei etwa Beiträge zum Schutz des Luftraums und der Territorialgewässer sowie ABC-Abwehr-, Pionier- oder Sanitätsaufgaben leisten.
Das Gutachten folgert aus einer Analyse der globalen Szenarien, dass militärische Bedrohungen zukünftig am besten dort bekämpft werden sollten, wo sie entstehen. Dies verlange mobile und verlegefähige Streitkräfte. Denkbar sei daher, so Naumann, auch eine Neugewichtung der Teilstreitkräfte. Da 80 Prozent aller erkennbaren Krisenregionen nicht weiter als 200 Kilometer von einer Küste entfernt lägen, müssten die Seestreitkräfte der Bundeswehr besonderes Gewicht bekommen. Hauptträger von Interventionen blieben jedoch die Landstreitkräfte, die mit Luftunterstützung aus großer Entfernung oder direkt im Kampfgebiet intervenieren und nach militärischen Operationen vorübergehend auch Polizeiaufgaben wahrnehmen können.
Die notwendigen Interventionsstreitkräfte als Kern der Bundeswehr müssten eine Größenordnung von 150.000 „einsatzbereiten und längerdienden Soldaten“ umfassen, bei einer Gesamtstärke von 210.000 Zeit- und Berufssoldaten. Gleichzeitig spricht sich Naumann entschieden für eine zusätzliche Wehrpflichtigenkomponente und damit für die Beibehaltung der Wehrpflicht aus. Wehrpflichtige sollten aber zukünftig vornehmlich Aufgaben der territorialen Landes- und Bündnisverteidigung wahrnehmen.
In Bezug auf die zukünftig erforderlichen Ressourcen verweist Naumann auf das jüngste Abkommen zwischen der NATO und Russland. Die Bedrohung des europäischen Zentralkontinents habe sich durch dieses Abkommen weiter verringert. Der Aufwand für Mobilmachung könne daher weitgehend für andere Aufgaben genutzt werden. Dringenden Handlungsbedarf sieht Naumann bei der materiellen Ausstattung von Bundeswehr und NATO. Durch die sich verschärfende „Fähigkeitslücke“ seien die Europäer kaum noch in der Lage, in bestimmten
Bereichen gemeinsame Operationen mit den USA durchzuführen. Grundsätzlich fordere die neue Situation eine Erhöhung des Verteidigungshaushalts innerhalb der nächsten zehn Jahre auf zwei Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts. Naumann: „Unter den neuen vorherrschenden Bedingungen ist Sicherheit nicht zum Nulltarif zu haben.“
Das sicherheitspolitische Gutachten Naumanns für die Bertelsmann Stiftung ist ein Beitrag für die Task Force „Zukunft der Sicherheit“, einer Expertengruppe, die kurz nach dem 11. September ins Leben gerufen wurde. Unter Leitung von Prof. Werner Weidenfeld, Präsidiumsmitglied der Stiftung, soll sie eine Schwachstellenanalyse der gegenwärtigen außen- und innenpolitischen Sicherheitsstrukturen vornehmen und einen Katalog von Empfehlungen für die Abwehr aktueller und denkbarer Bedrohungen erarbeiten.
Rückfragen an: Norbert Osterwinter, Telefon: 0 52 41 / 81-81 484
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