Vom Nutzen der Beschränktheit


Ein enormes Gedächtnis und überdurchschnittlich großes Wissen scheinen zunächst nur Vorteile zu haben. Geringere mentale Kapazität wird dagegen oft gleichgesetzt mit einer schwächer ausgeprägten Fähigkeit, Probleme zu lösen. Genau diese Verknüpfung stellen die Kognitionspsychologen Ralph Hertwig und Peter M. Todd vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung nun in Frage.

Hertwig und Todd sagen, dass Grenzen bei der Verarbeitung von Informationen auch eine positive Seite haben. Sie können wichtige Adaptationsprozesse ermöglichen, die bei entsprechend höherer intellektueller Kapazität möglicherweise ausblieben. So sind Menschen, die nur eine geringe Zahl von Informationen zur Verfügung haben, eher in der Lage, mithilfe einfacher Lösungsstrategien ans Ziel zu kommen. Verblüffenderweise sind ihre Schlussfolgerungen dennoch oft ebenso gut wie die derer, die mit mehr Informationen ins Rennen gehen.

In einer 1999 veröffentlichten Studie fragten die Psychologen Daniel G. Goldstein und Gerd Gigerenzer Studenten aus Chicago und München: Welche Stadt hat die höhere Einwohnerzahl: San Diego oder San Antonio? 62% der Chicagoer Studenten tippten auf die richtige Antwort San Diego, bei den deutschen waren es jedoch 100%. Die deutschen Studenten verfuhren dabei nach der so genannten „recognition heuristic“, d.h. einer Entscheidungsregel, die einzig und allein den Faktor „Wiedererkennung“ (in diesem Fall der Städte) in Betracht zieht. Verallgemeinert gesagt heißt das: „Wird eines von zwei Objekten wiedererkannt und das andere nicht, so kann man bei dem wiedererkannten von einem höheren Wert ausgehen.“ Unbrauchbar ist diese Entscheidungsregel natürlich, wenn alle Objekte wiedererkannt werden, wie es bei den amerikanischen Studenten der Fall war. Hätten diese also weniger über die US- Städte gewusst, wären ihre Testergebnisse womöglich besser ausgefallen. Goldstein und Gigerenzer bezeichnen dieses Phänomen als „less-is-more effect“.
Solche Beispiele belegen für Hertwig und Todd die Vorteile begrenzten Wissens.

Die meisten Menschen können sich im Kurzzeitgedächtnis nur etwa sieben Informationen merken. Diese Begrenzung zwingt uns, über Muster und Gruppen gedankliche Zusammenhänge zu erstellen, sodass Informationen „gebündelt“ gespeichert werden können. Beim Erwerb von Fremdsprachen sehen Hertwig und Todd begrenzte mentale Kapazität gar als vorteilhaft an, um Bestleistungen zu erzielen. Das schwächere Erinnerungsvermögen von Kindern führt nämlich dazu, dass sich die wenigen, dafür aber sicher gelernten Sprachmuster, Vokabeln und Konjugationstabellen genauer einprägen und später leichter abgerufen werden können. Kinder bilden so ein sicheres Fundament einfacher Zusammenhänge, mit dessen Hilfe sich komplexere Zusammenhänge später einfacher verstehen lassen. Hertwig vergleicht das mit dem Bau eines Hochhauses von unten her. „Erwachsene neigen dazu, dieses Hochhaus von oben her bauen zu wollen“, meint Hertwig. Auf Grund ihrer höheren geistigen Fähigkeiten, versuchen sie, die gesamte Struktur der Fremdsprache rein analytisch zu erfassen – und scheitern dabei oft kläglich.

Untersuchungen mit neuronalen Netzen haben gezeigt, dass solche selbstständig lernenden Computerprogramme keineswegs mit wachsender Gedächtniskapazität immer erfolgreicher werden. Ein Computerwissenschaftler begrenzte die Kapazität eines neuronalen Netzes zum Spracherwerb, um die Beschränktheit von Kleinkindern nachzuahmen und stellte daraufhin fest, dass sich dadurch die Lernleistung deutlich erhöhte.

Wir Menschen treffen häufig Entscheidungen, die wenig rational sind und dennoch zum Erfolg führen. Evolutionsbiologen beschäftigt nun die Frage: Warum sind wir überhaupt mit solch simplen Heuristiken ausgestattet? Die weit verbreitete Antwort lautet, dass unsere begrenzten geistigen Fähigkeiten keine komplexeren Prozesse zuließen. Die These von Hertwig und Todd führt jedoch zu einer völlig entgegengesetzten Sichtweise. Wären diese komplexeren Prozesse nämlich in der Evolution zwingend notwendig gewesen, so hätte sich ein entsprechender Adaptationsdruck aufgebaut. Dann hätte sich die mentale Kapazität des Menschen sukzessive erhöht, um sich den veränderten Bedingungen anzupassen, sagen die beiden Wissenschaftler. Die bestehenden Grenzen unserer geistigen Fähigkeiten ließen sich nämlich auch umgekehrt erklären. Einfache Entscheidungsregeln haben sich im Laufe der Evolution bewährt, stellen dabei aber nur geringe Anforderungen an die mentale Kapazität. Bei Menschen mit einer höheren mentalen Kapazität, die diese Anforderungen übererfüllt, könnte man spekulieren, dass diese ungenutzte „Intelligenz“ zum Selektionsnachteil wird, weil sie an anderer Stelle, wo sie gebraucht würde, nicht zur Verfügung stünde.
Die Nachteile eines grenzenlosen Intellekts fasst der argentinische Autor Jorge Luis Borges in der Figur seines Ireneo Funes zusammen: Funes’ perfektes Gedächtnis bringt ihm zwar viel Bewunderung, lähmt jedoch seine Fähigkeit, sich in der Welt zurechtzufinden. So sind seine Abstraktionsfähigkeiten durch das allmächtige Gedächtnis derart verkümmert, dass er nicht in der Lage ist, ähnliche Objekte gedanklich zu verbinden – Einen um 3.14. Uhr im Profil zu sehenden Hund erkennt er um 3.15 Uhr nicht mehr wieder, als er sich ihm von vorne zeigt.

Von David Neubeck

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Dr. Antonia Rötger idw

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