Kleine Helfer mit großem Potenzial

Dr. Günter Hörcher, Abteilungsleiter Produktentwicklung bei der Fraunhofer TEG: "Schon heute sind Mikrosysteme aus der Medizintechnik oder der Automobilindustrie nicht mehr wegzudenken."

Die Mikrosystemtechnik gilt weltweit als eine Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts. Doch gibt es nur wenige Ansätze, die bestehenden Forschungsergebnisse in marktfähige Produkte umzuwandeln. Die Fraunhofer-Technologie-Entwicklungsgruppe TEG in Stuttgart arbeitet jetzt an einem neuen Typ Mikroaktoren, der schon bald für die industrielle Anwendung nutzbar gemacht werden soll.

Das ist, als ob Sie mit Pinzetten durch das Schlüsselloch der Haustür einen Knopf an der Bettwäsche im Schlafzimmer annähen wollen. Dazu sind die Räume mit unzähligen Möbeln verstellt, um die man die Pinzetten herumführen muss. Und wehe, Sie stoßen etwas um.“ So beschreibt ein Neurochirurg in der Förderbroschüre „Mikrosystemtechnik 1994-1999“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung BMBF die bestehenden Schwierigkeiten bei Eingriffen im Gehirn mit herkömmlichen Endoskopen. Viele Operationen können aufgrund dieser Risiken nicht durchgeführt werden. Deshalb entstehen derzeit verschiedene Lösungsansätze, angefangen bei der Verbesserung vorhandener Instrumente bis hin zu Entwürfen von autarken Minirobotern. Alle diese Ansätze haben eines gemeinsam: sie sind auf Miniaturisierung und eingebaute Intelligenz angewiesen, erfordern also mikrosystemtechnische Lösungen.
„Schon heute sind derartige Mikrosysteme, also kleinste Bausteine, die elektronische, mechanische und optische Funktionen zusammenfassen, aus der Medizintechnik oder auch der Automobilindustrie nicht mehr weg zu denken“, weiß Dr. Günter Hörcher, Abteilungsleiter Produktentwicklung bei der Fraunhofer TEG. Und sie beeinflussen in zunehmendem Maße auch den Industriestandort Deutschland. Denn Systeme in einer Größenordnung von nur wenigen Millimetern oder gar Nanometern ermöglichen innovative Produkte und Verfahren, die über völlig neue Eigenschaften und Funktionen verfügen. Ein wichtiger Bestandteil sind dabei die so genannten Mikroaktoren, ohne die heute kaum ein Produkt auskommt. Sie verleihen einem System die Möglichkeit zu reagieren, Bewegungen auszuführen und Kräfte aufzubringen. „Mikroaktuatoren, die oft auch als künstliche Muskeln bezeichnet werden, haben erhebliche Vorteile“, so Dipl.-Ing. Ivica Kolaric, Mitarbeiter der Fraunhofer TEG in der Abteilung Produktentwicklung. „Sie benötigen relativ wenig Energie, keine komplexe Mechanik und sind vielseitig einsetzbar.“

Künstliche Muskeln aus Ruß

In der Literatur wird der Aktor bzw. Aktuator als Stellglied definiert, das meist elektrisch angesteuert wird und dessen Ausgangsgröße eine Energie oder Leistung ist. In den meisten Fällen führt er eine mechanische Bewegung aus. Klassifiziert werden derartige Aktoren nach der jeweiligen Hilfsenergie, die zugeführt wird. So unterscheidet man unter anderem elektromagnetische, chemische, thermomechanische, fluidische oder piezoelektrische Mikroaktoren. Allerdings gibt es bisher nur wenige Ansätze, die den Einsatz künstlicher Muskeln in der Industrie unterstützen. Aus diesem Grund hat sich die Fraunhofer TEG jetzt dieser Thematik angenommen. „Unser Ziel ist es, kostengünstige Mikroaktuatoren verstärkt für industrielle Zwecke nutzbar zu machen“, so Hörcher. Denn gerade deutsche Unternehmen haben gute Voraussetzungen, derartige Produkte als erste auf den Markt zu bringen. Schließlich profitieren sie von einer hervorragenden Technologiebasis. Experten weisen allerdings immer wieder auf Probleme im Innovationsprozess hin. Anders als die amerikanische oder japanische ist die deutsche Industrie nämlich sehr zurückhaltend bei der Übernahme und Umsetzung der Forschungsergebnisse. „Ein Grund für die Zurückhaltung vieler Unternehmen ist sicher der hohe Anschaffungspreis bzw. die lange und kostenintensive Entwicklung solcher Kleinstteile“, führt Kolaric aus. Doch das könnte sich ändern, denn vor kurzem hat ein internationales Team von Wissenschaftlern einen neuen Aktuator-Typ entwickelt, der elektrische Energie in mechanische Bewegung umwandelt.
Wie natürliche Muskeln bestehen die neuen Aktuatoren aus Milliarden von einzelnen, nur Nanometer kleinen Fasern, die mechanische Arbeit ausführen können. Im Gegensatz zu den relativ schwachen Fasern eines natürlichen Muskels bestehen diese jedoch aus winzigen Kohlenstoff-Nanoröhrchen. „Die verschiedenen Modifikationen des reinen Kohlenstoffs sowie deren Eigenschaften haben erst in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit der Materialwissenschaftler auf sich gezogen“, erklärt Hörcher. Denn Kohlenstoff ist in Form von Diamant das härteste bekannte Material und verfügt über die größte Wärmeleitfähigkeit. Graphit wiederum ist ein guter elektrischer Leiter. Schließlich entdeckte man, dass auch Carbon-Nano-Röhrchen bestimmte Eigenschaften besitzen, wodurch sie sich hervorragend als Mikroaktuatoren eignen. „Wir haben bereits zahlreiche Versuche durchgeführt und konnten uns dabei selbst von den überragenden Eigenschaften dieses Materials überzeugen“, berichtet Dipl.-Ing. Kolaric.

Mehr Leistung, weniger Kosten

Legt man an die Nanotubes eine elektrische Spannung an, so erhält man wie bei einer künstlichen Muskelbewegung eine Zuckung. Dieser Effekt wird für den Bau der neuartigen Aktuatoren ausgenutzt. Vorteilhaft ist dabei die hohe Festigkeit der Fasern, durch die sie bei jeder Bewegung nicht nur mehr Arbeit verrichten, sondern auch eine höhere mechanische Spannung erzeugen können als alle bisher für Aktuatoren verfügbaren Technologien. Zudem dehnt sich das Material in der Länge auch stärker aus als bei anderen Systemen, wie der direkte Vergleich mit piezoelektrischen Aktoren zeigt.
Piezomaterialen werden bisher in der Industrie am häufigsten als Aktuator verwendet, beispielsweise in der Mikropositioniertechnik oder bei Lautsprecher-Membranen. Man nutzt dabei den umgekehrten piezoelektrischen Effekt: Legt man zum Beispiel an einen Piezokristall eine elektrische Spannung an, tritt auch hier eine Geometrieänderung in der Länge oder Dicke auf. Der große Nachteil dieses Materials besteht jedoch in der geringen Längenausdehnung pro angelegter Feldstärke. „Wenn man Piezokeramik-Schichten zu einem acht Zentimeter hohen Stapel schichtet und Spannung anlegt, erhält man eine Längenänderung von 0,04 Millimetern“, weiß Dipl.-Ing. Kolaric, „allerdings ist dafür eine Spannung im KV-Bereich erforderlich. Die Kohlenstoff-Nanoröhrchen dagegen schaffen eine Ausdehnung, die etwa um den Faktor 30 größer ist, und das bei einer Versorgungsspannung, die im einstelligen Volt-Bereich liegt.“ Doch auch aufgrund der hohen Hitzebeständigkeit des Kohlenstoffs, die einen Einsatz des neuen Aktuatortyps bei Temperaturen bis zu 1000° Celsius erlaubt, übertrifft er die Leistung aller bisher vorhandenen Mikroaktoren.

Bindeglied zwischen Forschung und Industrie

„Durch seine besonderen Eigenschaften und den kostengünstigen Rohstoff eröffnet sich diesem neuen Aktuatorprinzip ein sehr weites Anwendungsfeld“, ist sich Kolaric sicher, „zum Beispiel in der Luft- und Raumfahrttechnik, der Feinwerktechnik, der Robotik und Automatisierung sowie der Automobilindustrie und der Medizintechnik.“ Doch auch für die Mikropositioniertechnik erscheinen Mikroaktoren aus Carbon-Nano-Röhrchen geradezu prädestiniert, da durch ihr geringes Gewicht ein überschwingfreies Positionieren möglich wird. „Diese Möglichkeiten wollen wir jetzt gemeinsam mit Unternehmen am Markt optimieren und ausschöpfen“, so der Stuttgarter Experte.
Für diesen Zweck ist die Fraunhofer-Technologie-Entwicklungsgruppe optimal positioniert. So verknüpfen die Stuttgarter Entwickler sämtliche nutzbaren Ressourcen ihrer 55 Schwesterinstitute innerhalb der Fraunhofer Gesellschaft. „In diesem konkreten Fall arbeiten wir zum Beispiel mit dem Fraunhofer Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB zusammen“, erklärt Abteilungsleiter Dr. Hörcher. In enger Kooperation mit dem Fraunhofer IGB werden die physikalischen Grundlagen geschaffen, welche die TEG benötigt, um neue Technologien oder Forschungserkenntnisse in die Praxis umzusetzen. Darüber hinaus gilt die Fraunhofer TEG als industrienahe Forschungs- und Entwicklungseinrichtung, die sich durch jahrelange Zusammenarbeit mit der Industrie und zahlreichen Projekten das notwendige Praxis-Know-how angeeignet hat. „Wir sehen uns als Bindeglied zwischen Forschung und Unternehmen“, fährt der Fraunhofer Ingenieur fort. „Auf diese Weise wollen wir erreichen, dass neue Technologien in marktfähige Produkte umgesetzt werden können. Innovationsfähigkeit ist und bleibt einer der Schlüsselaspekte für Unternehmen, die sich auch in Zukunft am internationalen Markt behaupten wollen – schließlich wird die Welt immer kleiner.“

Marion Hiltl

Ansprechpartner Fraunhofer TEG
Dipl.-Ing. (FH) Ivica Kolaric
Nobelstraße 12
70569 Stuttgart
Tel.: +49 (0) 711/9 70-3729
Fax: +49 (0) 711/9 70-3997
Email: ivk@teg.fraunhofer.de

Dr. Günter Hörcher
Nobelstraße 12
70569 Stuttgart
Tel:: +49 (0) 711/970-3700
Fax: +49 (0) 711/9 70-3997
Email: guh@teg.fraunhofer.de

 

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