Zündstoff Sprache

Zur Sprachsituation in ethnisch gemischten Familien der Republik Moldova wurde am Institut für Romanistik der Universität Leipzig eine Dissertation unter dem Titel „Sprachkonflikt, Sprachbewusstsein und Sprachloyalität in der Republik Moldova“ geschrieben.

„Ich? Ich bin ein rumänischsprachiger Moldauer.“ Für Vasile Dumbrava ist die Frage nach seiner Identität nicht leichter zu beantworten als für jeden anderen Menschen. Aber was den Historiker von den meisten anderen unterscheidet: Bei ihm fallen persönliche und berufliche Ambivalenz in eins. Seit Mitte der 90er Jahre drehen sich seine Forschungen um seine Heimat Moldova als einer Region, in der sich „Sprachkonflikte als Sinnbild für alle Fragen der Identität“ exemplarisch untersuchen lassen.
Die Republik Moldova, die am 27. August 1991 ihre Unabhängigkeit erklärte, war die zweitkleinste der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Sie war 1940 entstanden, nachdem die deutsche Führung im Molotov-Ribbentrop-Pakt ihr Desinteresse an Bessarabien bekundet hatte. Daraufhin forderte die Sowjetunion im Juni 1940 Rumänien ultimativ auf, sich aus dem Gebiet zwischen Pruth und Dnjestr zurückzuziehen. Aus dem mittleren Teil Bessarabiens sowie einem Streifen links des Dnjestr entstand am 2. August die Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik (MSSR). Auch in den vorhergehenden Jahrhunderten hatte Moldova (deutsch: Moldau), die historische Landschaft zwischen den östlichen Karpaten und dem Pruth, immer wieder wechselnde politische Herrschaften, vielfache territoriale Verschiebungen und unterschiedliche kulturelle Prägungen erfahren. Türken, Griechen und Russen übten ihren Einfluss aus; Ukrainer, Russen, Deutsche, Serben, Gagausen, Bulgaren und Juden ließen sich in Moldova (damals: Bessarabien) nieder. Die territorial-staatlichen Veränderungen des 20. Jahrhundert führten für Teile der Bevölkerung dazu, dass sie im Laufe ihres Lebens bis zu fünf Mal die Staatsangehörigkeit wechselten. „Die Konstante in all diesen Prozessen war und ist die rumänischsprachige Bevölkerung“, untermauert Prof. Klaus Bochmann vom Institut für Romanistik der Universität Leipzig die Entscheidung seines Schützlings Vasile Dumbrava, die Dissertation über „Sprachkonflikt, Sprachbewusstsein und Sprachloyalität in der Republik Moldova“ als „eine empirische Studie in gemischt ethnischen Familien“ anzulegen.
Untersuchungen zu dieser Thematik liegen generell nur in geringer Zahl vor. Erst seit den 1960er Jahren finden gemischtethnische Familien bzw. Ehen wissenschaftliche Beachtung, damals wandte sich die Forschung der Sprachverteilung und den Sprachstrategien im Französisch und Englisch beherrschten Kanada zu. Ab Mitte der 1980er rückten zweisprachige Paare und Familien in Südtirol/Norditalien sowie in der Schweiz ins Blickfeld. Weitere empirisch fundierte Studien fehlen bislang, und im Vergleich zu Nordamerika ist für Europa ein Forschungsdefizit festzustellen. Für die Republik Moldova beginnen linguistische und soziolinguistische Aufsätze von Jürgen Erfurt (Frankfurt/Main), Klaus Heitmann (Heidelberg) sowie Klaus Bochmann (Leipzig) diese Lücke zu schließen. Vasile Dumbrava wiederum stellt seine Erkenntnisse zu den inner- und außerfamiliären sprachlichen Verhältnissen in den sozialen und ideologischen Kontext der Republik Moldova und legt die erste umfassende und geschlossene Analyse zu Ursachen, Faktoren, Manifestationen und Folgen des Identitäts- und Sprachkonflikts in gemischtethnischen moldauischen Familien vor. 35 Familien aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Altersstrukturen aus der Hauptstadt Chisinau und aus einer Kleinstadt in der Nähe der Universitätsstadt Balti bezog Dumbrava zwischen 1997 und 2000 anhand von Fragebögen und Tiefeninterviews in seine Feldforschung ein.
Die Familien, denen sich Vasile Dumbrava zuwandte, sind zumeist vor 1989 – in jenem Jahr gehörten 18 Prozent aller moldauischen Familien zur Gruppe der gemischtethnischen – gegründet worden. Seit den 1960er Jahren wurde in der Sowjetunion versucht, ein sowjetisches Volk jenseits ethnischer, sprachlicher, kultureller sowie historischer Scheidelinien und Schranken zu schaffen. Familien, in denen sich zwei oder über mehrere Zweige und Generationen hinweg auch drei, vier oder fünf Nationalitäten mischten, galten als Paradebeispiel für das friedliche Miteinander. In diesem „Ringen“ erreichte die Moldauische SSR 1979 den Spitzenplatz in der sowjetischen Statistik: Der Anteil der gemischtethnischen Familien an Stadt-Familien betrug 36 Prozent. In der sozialistischen Gesellschaft prägten „Annäherung“ und „Verschmelzung“ das Verhältnis zwischen Nationen und Nationalitäten. Wobei sich hinter beiden Vokabeln die Ausrichtung auf sowjetische Lebensweise und russische Sprache verbarg. Kontroversen, Konflikte, Konfrontationen, die sich daraus ergaben, fanden zwischen den beiden Schlagworten keinen Platz. Das Leben der Menschen war sozialistisch, also friedlich. Die Identität der Menschen war sowjetisch, also einheitlich. Punkt.
Doch mit dem Zerfall der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken und mit dem Aufstreben unabhängiger Staaten verloren die gemischtethnischen ihren Status als „Errungenschaft“ und „Vorbild“ und sahen sich unverhofft in die Rolle des „Störfaktor“ und als „Abweichung“ gedrängt. Sie fanden sich nach 1990 in Gesellschaften wieder, deren Identität sich auf nationale Eigenheit und Selbstständigkeit sowie auf die strikte Abgrenzung von sowjetisierdenden Tendenzen gründete. Die einst gelobten und geförderten ethnisch gemischten Familien störten die Konstituierung der unabhängigen Staaten als ungebrochen einheitlicher Nationen.
Ihren stärksten Ausdruck erfährt die neue, „verkehrte“ Situation in der Sprache: Die Republik Moldova erklärt – unter dem politisch motivierten Pseudonym „Moldauisch“ – die rumänische Sprache 1989 zur offiziellen Sprache für die 4,5 Millionen Einwohner des Landes, in der künftig sämtliche Verträge und amtliche Dokumente abzufassen sind. Bei „Moldauisch“ und „Rumänisch“ handelt es sich um ein und dieselbe Sprache: In der Moldauischen SSR wurde weiterhin mehrheitlich Rumänisch gesprochen, aber die Sprache mit kyrillischen Buchstaben geschrieben; in der Republik Moldova wird weiterhin Rumänisch gesprochen, nun aber wieder in lateinischer Schrift geschrieben und als Moldauisch bezeichnet – letzteres wird von den Moldovinisten, das sind in erster Linie die Agrarpartei sowie die Kommunistische Partei der Republik Moldova, vertreten, um sich nachhaltig der eigenen Identität zu versichern.
Das Rumänische gewinnt mit der Deklarierung als Landessprache an Prestige, sein Gebrauch wird nicht mehr lediglich geduldet, sondern gilt jetzt als Ausdruck der Identifikation zwischen den Menschen und ihrem Staat. In den gemischtethnischen Familien selbst und in ihrem Umfeld wird mit der Aufwertung der rumänischen Sprache auch die Zweisprachigkeit beider Elternteile für Freunden, Verwandte und Arbeitskollegen endlich sichtbar und auch anerkannt. Das Rumänische übernimmt Funktionen, die bislang dem Russischen zukamen. Allmählich zeichnet sich eine reale (nicht allein die politisch motivierte und angeregte) Veränderung in der Sprachlandschaft ab. Es ist der Nachwuchs des Landes, unter dem die Überzeugung, dass die Beherrschung von mehr als einer Elternsprache sowohl für die persönliche Zukunft als auch für die Perspektive der jungen moldauischen Nation von Vorteil ist, an Boden gewinnt. Auch Eltern aus gemischtethnischen Familien sehen in wachsendem Maße die Mehrsprachigkeit als erstrebenswert für ihre Kinder an, dies zeigt sich in den Familien und bei der Wahl der Schule. Kinder und Jugendliche aus gemischtethnischen Familien nehmen die Orientierung auf die Mehrsprachigkeit auf oder fordern sie selbst von ihren Eltern ein. Für die Schüler und Studenten kommt der Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit auf der Skala der Bildungswerte ein hoher Stellenwert zu. Individuelle Ziele wie zum Beispiel ein Universitätsstudium oder eine berufliche Qualifizierung im Ausland lassen sich in Rumänien deutlich günstiger realisieren als in Russland: Die Entfernung zur nächsten renommierten Universität in Iasi ist um ein vielfaches geringer als nach Moskau. Die Lebenshaltung ist in rumänischen Städten preiswerter als in russischen Metropolen. Die ethnische und sprachliche Verflechtung der heutigen Nachbarstaaten reicht bis ins 14. Jahrhundert zurück.
Vor dem Hintergrund seiner Forschungen und Erkenntnisse ist auch das Selbstverständnis des Historikers Vasile Dumbrava als „rumänischssprachiger Moldauer“ erklärbar: „Rumänischsprachig“ steht für familiäre, kulturelle, ethnische und sprachliche Wurzeln; „Moldauer“ kennzeichnet jenen Staat, auf und in dem die Wurzeln liegen. „Das ist wie eine Matrjoschka, unter jeder Schicht, die man abhebt, kommt eine neue zum Vorschein.“ Der schlanke Mittdreißiger lächelt leise. Mit der verschachtelten Holzpuppe greift er genau jenes Bild auf, das seine Arbeit im Kern charakterisiert: Die Identität eines Menschen, der in einer Familie lebt, in der ein Teil rumänisch und ein Teil russisch spricht, steht im Spannungsfeld zwischen innerem Anspruch und äußeren Anforderungen. Ein Spannungsfeld, das in einer jungen Nation wie der moldauischen einer tiefgreifenden und umwälzenden Dynamik unterliegt und das mit jeder Veränderung auf einer der beiden seiten neue Facetten zeigen wird. Ein Spannungsfeld aber auch, das bei Kindern aus gemischtethnischen Familien auf Toleranz und Akzeptanz gegenüber der Diversität hoffen lässt.
Dass dies begründet ist, zeigt der aktuelle Umgang mit dem bis 1989 politisch oktroyierten und im Gebrauch dominierenden Russisch. Die von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung gesprochene und verstandene Sprache prägt weiterhin Alltag und Öffentlichkeit des jungen Staates. Nach wie vor gebieten es die gesellschaftlichen Konventionen in Moldova, in Anwesenheit eines nicht rumänischsprachigen Menschen russisch zu sprechen. Nach wie vor gilt Russisch als allgemein verständliche Verkehrssprache und hat sich auf Grund dieses Gebrauchs auch als deutlich bevorzugte Sprache gehalten. Daneben spielen Ukrainisch, Gagausisch sowie Bulgarisch eine zwar rezessive, aber dennoch einflussreiche Rolle.
Daniela Weber

weitere Informationen: Prof. Dr. Klaus Bochmann
Telefon: 0341 97 37411
E-Mail: bochmann@uni-leipzig.de
Internet:
 www.moldova.md (offizielle Seite der Republik Moldova )
www.moldova.4pla.net (informativer, ausgewogener Führer von Geschichte und Politik über Geographie und Menschen bis Kultur und Reise)
 www.moldova.com

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Volker Schulte idw

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