Uni Kassel lässt Beweiswert elektronischer Dokumente in 12 Gerichtsverfahren prüfen

Sofern die von der Forschungsgruppe TransiDoc gefundenen Lösungen zur beweiskräftigen Signatur diesen Praxistest bestehen, könnten die simulierten Verfahren eine Wende an deutschen Gerichten einläuten, wo elektronische Dokumente bisher so gut wie keine Rolle spielten.

Ein Fallbeispiel: Einige Jahre nach Einführung der elektronischen Aktenführung klagt Herr Rasant gegen die Eira-Klinik auf Schadenersatz. Nachdem er sich bei einem Motorradunfall einen komplizierten Beinbruch zugezogen hatte, leidet er nun, Jahre später, an schwerer Arthrose. Herr Rasant ist fest davon überzeugt, dass sein Leiden auf einen Behandlungsfehler seitens der Klinik zurückzuführen ist. Streitentscheidend im Prozess ist das Ergebnis der auf die Operation folgenden Nachuntersuchung, über deren Inhalt sich die Parteien nicht einig sind. Kläger und Beklagte stützen ihre jeweiligen Behauptungen auf verschiedene Versionen des damals erstellten, elektronisch signierten Untersuchungsberichts. Beide Versionen sind das Ergebnis einer Transformation des Ausgangsdokumentes. Das Gericht muss nun entscheiden, welchem Dokument es glaubt.

„Bei der Transformation der elektronischen Dokumente – etwa von Word in PDF – geht die elektronische Signatur verloren und damit die Prüfbarkeit des Dokuments hinsichtlich seiner Unverfälschtheit und Herkunft. Damit verliert das Dokument auch seine ursprüngliche Beweiskraft vor Gericht. Die Transformation stellt ein Grundlagenproblem des elektronischen Geschäftsverkehrs und der elektronischen Verwaltung dar“, so Professor Alexander Roßnagel, der mit dem Projekt „TransiDoc – Rechtssichere Transformation signierter Dokumente“ an der Universität Kassel den rechtswissenschaftlichen Teil des komplexen Forschungsvorhabens leitet. Eine Transformation von Dokumenten wird erforderlich, wenn die Lesbarkeit des elektronischen Dokuments trotz vielfachen Versionenwechsels sichergestellt, das Dokument in ein elektronisches Archiv eingestellt oder eine Papierurkunde in ein elektronisches Dokument umgewandelt werden soll. Da die Zahl der Datenformate stetig ansteigt, ist die Rechtssicherheit in diesem Bereich zunehmend gefährdet. Beispielsweise benutzen Architekten über hundert verschiedene elektronische Formate für ihre Pläne, Baubehörden können aber nur zwei oder drei Formate verarbeiten, sodass die Dokumente beim Eingang in der Behörde transformiert werden müssen.

Das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) geförderte Projekt TransiDoc untersucht seit zwei Jahren Lösungen für Transformationsprobleme zum Beispiel in der Medizin bei der Digitalisierung von Patientenakten, der elektronischen Antragsbearbeitung in der öffentlichen Verwaltung oder im Arbeitsumfeld von Notaren und Rechtsanwälten. Entsprechend gehören Fachleute der einzelnen Bereiche zu den Projektpartnern: Beteiligt sind das Zentrum für Informations- und Medizintechnik des Uni-Klinikums Heidelberg (ZIM), die InterComponentWare AG (ICW), die Curiavant Internet GmbH, die Projektgruppe verfassungsverträgliche Technikgestaltung an der Universität Kassel (provet) sowie die Bundesnotarkammer als assoziierte Partnerin. Konsortialführer ist das Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnik (SIT) in Darmstadt.

In einem interdisziplinären Ansatz haben die Projektpartner gemeinsam nicht nur technische, sondern auch organisatorische Lösungsvorschläge erarbeitet. In einem zweiten Schritt sind sodann Werkzeuge zur Erzeugung, Bearbeitung und Prüfung von Lösungen entstanden. Leitgedanke ist dabei die Entwicklung eines „Transformationssiegels“ für elektronische Daten. Anhand dieses Siegels sollen spätere Gutachter wie bei einer Beglaubigung genau nachvollziehen können, was wann wie mit dem Dokument geschah. Provet bearbeitet den rechtwissenschaftlichen Teil dieses Forschungs- und Entwicklungsprojekts.

Um zu testen, inwieweit diese Konzepte geeignet sind, mit den elektronisch signierten Dokumenten auch noch nach einer Transformation Beweis zu erbringen, haben provet und SIT eine Simulationsstudie entwickelt, die im November und Dezember 2006 durchgeführt wird. Richter, Rechtsanwälte und Gutachter unterziehen in zwölf gerichtlichen Verfahren, deren Streitgegenstand realistischen Streitfällen nachgestellt ist, die entwickelten Konzepte und prototypischen Lösungen dem Härtetest der prozessualen Auseinandersetzung. Das Ergebnis der Simulationsstudie erlaubt eine Einschätzung, ob Herr Rasant den einleitend vorgestellten Fall in der Realität gewinnen würde. Als Höhepunkt der Simulationsstudie finden am 4. und 5. Dezember die mündlichen Gerichtsverhandlungen zu den Streitfällen statt.

Hinweis für die Redaktionen:
Die simulierten Gerichtsverhandlungen finden statt am 4. Dezember von 11 bis 18 Uhr und am 5. Dezember von 9 bis 16 Uhr im Tagungszentrum „Haus der Kirche“, Wilhelmshöher Allee 330 in Kassel statt. Die Verhandlungen sind öffentlich; Bildaufnahmen sind gestattet. Eine Zusammenfassung der ersten Ergebnisse der Simulationsstudie gibt Prof. Dr. Alexander Roßnagel am 5. Dezember um 15.30 Uhr, Raum 114.
Universität Kassel
Daniel Wilke
Fachbereich Wirtschaftswissenschaften
tel (0561) 804 6093
e-mail d.wilke@uni-kassel.de

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Ingrid Hildebrand idw

Weitere Informationen:

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