Ungleiche Nachbarn

Wer bei Kehl am Rhein oder bei Saarbrücken die Grenze zu unserem westlichen Nachbarn überschreitet, betritt ein Land mit einer grundsätzlich anderen demografischen Entwicklung: Während in Deutschland seit 1972 Jahr für Jahr mehr Menschen sterben als geboren werden, die Bevölkerung lange Zeit nur aufgrund von Zuwanderung gewachsen ist und seit 2003 sogar schrumpft, steigt die Einwohnerzahl Frankreichs kontinuierlich an – 2008 um rund 350.000. Dieses Wachstum von 0,5 Prozent im Jahr fußt zu vier Fünfteln auf einem Geburtenüberschuss und nur zu einem Fünftel auf Migration.

Nach den Vorausberechnungen der nationalen statistischen Ämter hat Deutschland bis 2050 angesichts eines wachsenden Geburtendefizits einen Bevölkerungsschwund von acht bis 14 Millionen zu erwarten. Frankreich dürfte im gleichen Zeitraum acht Millionen Einwohner hinzugewinnen. Damit wird es wahrscheinlich, dass Frankreich um die Mitte des Jahrhunderts mehr Einwohner haben wird als Deutschland, obwohl die „Grande Nation“ heute noch um 20 Millionen Einwohner zurückliegt. Weil die Bevölkerung Frankreichs darüber hinaus deutlich jünger bleiben wird als die deutsche, ist auch zu erwarten, dass sich die Wirtschaftskraft beider Lände zugunsten Frankreichs verschieben wird. Dies ist die Aussage des neuen Diskussionspapiers „Ungleiche Nachbarn“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung.

Hintergrund der divergierenden Entwicklung ist vor allem eine generell andere Familienpolitik in den beiden Staaten. Sie hat in Frankreich eine lange Tradition und beruht auf dem 1939 verabschiedeten „Code de la Famille“. Dieser Kodex wurde unter anderem eingeführt, weil die Franzosen Sorge hatten, von dem damaligen Erzfeind Deutschland im Hinblick auf die Bevölkerungszahl überholt zu werden. Die 1939 eingeführte Politik sollte anfangs noch die klassische Familie mit einer Hausfrau und einem erwerbstätigen Ehemann unterstützen helfen, wurde aber seit den 1970er Jahren konsequent an die neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten einer Zwei-Verdiener-Gemeinschaft angepasst. Schon sehr früh gab es gute Betreuungsmöglichkeiten auch für die unter dreijährigen Kleinen. Deshalb konnte in Frankreich die Erwerbsquote von Frauen kontinuierlich ansteigen, ohne dass es dabei wie in Deutschland zu einem starken Rückgang der Kinderzahlen kam.

Zwar hatten die Frauen in beiden Ländern zu Zeiten des Nachkriegs-Babybooms mehr Kinder als heute. Aber während in Deutschland die Fertilitätsrate seit Mitte der 1970er Jahre nachhaltig eingebrochen ist und seither um einen Wert von etwa 1,4 Kindern je Frau pendelt, hat sie in Frankreich nie 1,7 unterschritten und ist in der jüngeren Vergangenheit sogar wieder deutlich auf etwa zwei angestiegen. Weil in Deutschland heute die stark dezimierten Generationen der in den 1970er Jahren und später geborenen Frauen im fertilen Alter sind, beschleunigt sich der Abwärtstrend: In Deutschland hat sich die Zahl der Neugeborenen seit den 1960er Jahren von 1,35 Millionen auf weniger als 700.000 pro Jahr halbiert. Wegen der stetig kleiner werdenden Mütterjahrgänge wird sie sehr wahrscheinlich weiter sinken. In Frankreich werden seit längerem konstant mehr als 750.000 Kinder geboren – Tendenz steigend.

Auch in der Zuwanderung unterscheiden sich die beiden Nachbarländer: So verzeichnet Frankreich seit über 40 Jahren eine Netto-Migration von maximal 200.000 Personen pro Jahr. Deutschland hingegen hatte bei der Einwanderung erhebliche Ausschläge nach oben – zu Zeiten der Gastarbeiterwanderung, aber auch nach Ende des Kalten Krieges, als rund drei Millionen Aussiedler und, als Folge der Jugoslawienkriege, viele Flüchtlinge ins Land kamen. Mittlerweile ist die Attraktivität Deutschlands als Zuwanderungsland jedoch markant gesunken. 2008 konnten die Statistiker gerade noch ein Wanderungsüberschuss von 4.800 Menschen registrieren. Frankreich nahm im gleichen Jahr 67.000 Menschen mehr aus anderen Ländern auf als abwanderten, vorwiegend Familiennachzügler aus Nordafrika. In Frankreich bekommen sowohl die Einheimischen wie auch die ausländischen Bürger mehr Kinder als die entsprechenden Bevölkerungsgruppen in Deutschland.

Doch auch Frankreich bleibt nicht von dem Trend der gesellschaftlichen Alterung verschont. Nicht nur weil die Lebenserwartung in beiden Ländern kontinuierlich ansteigt – in Frankreich liegt sie mit 84,4 Jahren für Frauen und 77,5 Jahren für Männer sogar deutlich höher als in Deutschland. Dort haben Frauen 82,3 und Männer 76,9 Lebensjahre vor sich. Sondern auch, weil die Franzosen heute weniger Kinder bekommen als früher. Auch dort wird eine kinderreiche durch eine vergleichsweise kinderarme Generation ersetzt, wenngleich auf höheren Niveau als in Deutschland. Deshalb dürfte in Deutschland der Anteil der unter 20-Jährigen an der Gesamtbevölkerung von 19,5 Prozent 2007 bis 2050 auf 15,1 Prozent sinken, in Frankreich aber von 24,7 auf 21,9 Prozent. Der Anteil der über 64-Jährigen hingegen dürfte bei den Deutschen von 19,9 auf 33,2 Prozent steigen. In Frankreich stiege der Anteil der Personen in dieser Altersgruppe lediglich von 16,5 auf 26,2 Prozent.

Bei rund zwei Kindern je Frau bleibt die Zahl der Personen im Alter von 20 bis 64 Jahren in Frankreich bis 2050 nahezu konstant. In Deutschland hingegen wird die Zahl dieser potenziellen Erwerbspersonen um fast 15 Millionen sinken. Es ist zu erwarten, dass diese Entwicklung Folgen für die Wirtschaftskraft beider Länder haben wird. Während Deutschland sein Nachbarland beim Bruttoinlandsprodukt derzeit noch deutlich übertrifft, ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in beiden Ländern schon heute sehr ähnlich. Angesichts der Alterung könnte Frankreich Mitte des Jahrhunderts nicht nur demografisch sondern auch wirtschaftlich vor Deutschland stehen. Der Knappheit an Arbeitskräften wird die deutsche Wirtschaft nur durch massive Investitionen in Bildung, durch Innovationen und Produktivitätssteigerungen begegnen können.

Aufgrund der fortschreitenden demografischen Alterung wird die Finanzierbarkeit von Gesundheitssystem und Rentenversicherung in beiden Ländern zu einer enormen Herausforderung. Vor allem in Frankreich stellt die niedrige Erwerbstätigkeit der 55- bis 64-Jährigen ein immer größeres Problem dar. Während hierzulande die Rente mit 67 beschlossene Sache ist, streitet man in Frankreich trotz höherer Lebenserwartung noch immer darüber, ob es zumutbar ist, länger als bis 60 zu arbeiten.

Für Fragen und Interviews stehen Ihnen Dr. Reiner Klingholz (klingholz@berlin-institut.org, 0 30 – 31 01 75 60) sowie Stephan Sievert (sievert@berlin-institut.org, 0 30 – 31 10 26 98) zur Verfügung.

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Dr. Margret Karsch idw

Weitere Informationen:

http://www.berlin-institut.org/

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